Die Rückkehr des B-Worts: London diskutiert wieder über Brexit Von Benedikt von Imhoff, dpa

21.11.2022 14:49

Der Elefant im Raum hat seinen Namen wiedergefunden. Zwar dementiert
die britische Regierung vehement, sie wolle den Brexit aufweichen.
Doch erstmals seit Jahren wird auch von Konservativen offen über
Nachteile des EU-Austritts diskutiert. Zeitenwende oder Strohfeuer?

London (dpa) - Der TV-Sender GB News gilt als Bastion der
Brexit-Anhänger. Doch was die jüngste Umfrage des Kanals ergab,
raubte selbst dem Moderator die Sprache. Dass 55 Prozent der Zuseher
den EU-Austritt mittlerweile für eine schlechte Idee halten, bekam
Martin Daubney nicht über die Lippen. Die Szene war symbolisch:
Nachdem die britische Regierung den Brexit jahrelang gar nicht mehr
erwähnt oder zumindest negative Folgen heruntergespielt hatte, ist
das Wort tatsächlich wieder in aller Munde. «Zurück in die Zukunft»
,
kommentierte das Portal «Politico».

Auslöser: Ein Bericht der Zeitung «Sunday Times», dass Premier Rishi

Sunak wegen der schweren Wirtschaftskrise eine Annäherung an die EU
nach dem Vorbild der Schweiz wolle. Damit sollten die entstandenen
Barrieren im Handel mit der EU beseitigt werden. Die «Financial
Times» schrieb daraufhin unter Berufung auf eigene Recherchen, solche
Vergleiche seien in Regierungskreisen gemacht worden.

Sunak dementierte, dass es solche Ideen gebe. «Ich habe für den
Brexit gestimmt, ich glaube an den Brexit und ich weiß, dass der
Brexit gewaltige Vorteile und Möglichkeiten für dieses Land liefern
kann und bereits geliefert hat», sagte der Regierungschef am Montag
bei einer Industriekonferenz. Die EU-Kommission teilte mit, man habe
kein Angebot gemacht, sondern arbeite auf Grundlage der
ausgehandelten Verträge mit London zusammen.

Dass die Diskussion dennoch aufkommt, wundert nicht. Die
wirtschaftliche Lage des Vereinigten Königreichs ist schlecht:
Rezession, hohe Inflation, Fachkräftemangel und sinkende Reallöhne
sind nur die herausstechenden Probleme. Mit Steuererhöhungen und
Ausgabenkürzungen will Finanzminister Jeremy Hunt rund 55 Milliarden
Pfund (63 Mrd Euro) in die leere Kasse bekommen.

Was aber besonders für Aufsehen in konservativen Kreisen sorgte: Hunt
sprach sich für mehr Zuwanderung aus, um die Wirtschaft anzutreiben
und Lücken zu schließen - dabei war doch der Ärger über die
Freizügigkeit ein Brexit-Treiber. «Verratet uns nicht beim Brexit»,
warnte die konservative Zeitung «Daily Mail». Die frühere
Kulturministerin Nadine Dorries, eine enge Vertraute von Ex-Premier
Boris Johnson, teilte den Beitrag bei Twitter.

Johnson gilt noch immer als Gesicht des Brexits. «Get Brexit Done»
(Lasst uns den Brexit durchziehen), lautete Johnsons Mantra - und
noch immer behaupten viele Konservative, er habe das geschafft. Dabei
hat das Austrittsabkommen mit der EU viele Fragen offen gelassen, die
noch immer einer Antwort harren. So sorgt der Vertrag zwar weitgehend
für problemlosen Handel - dennoch sind Zölle entstanden, und die
Bürokratie hat deutlich zugenommen. Der bilaterale Handel brach ein.

Zuletzt nahmen die schlechten Nachrichten für Brexiteers zu. So
kritisierte der konservative Ex-Umweltminister George Eustice, das
Freihandelsabkommen mit Australien - von der Regierung als erster
wichtiger Vertrag nach dem Brexit gefeiert - sei für Großbritannien
schlecht. Die unabhängige Wirtschaftsaufsicht OBR betonte, der Brexit
habe «erhebliche nachteilige Auswirkungen auf den Handel» mit der EU
gehabt und schädige die Wirtschaft nachhaltig. Schließlich ermittelte
das Meinungsforschungsinstitut Yogov, die Zustimmung zum Brexit sei
so niedrig wie nie - was ausgerechnet von GB News bestätigt wurde.

Brexit is back, heißt es in London. «Es fühlt sich an, als erkenne
die Konservative Partei endlich die wirtschaftliche Realität an»,
kommentierte Gavin Barwell, einst Stabschef von Premierministerin
Theresa May, im Gespräch mit «Politico».

Dass Großbritannien plötzlich den Rückwärtsgang einlegt und in die

EU zurückkehrt, ist kaum zu erwarten. In der Konservativen Partei hat

der Einfluss der Brexit-Befürworter seit dem Austritt eher noch
zugenommen. Zudem lehnt Oppositionschef Keir Starmer von der
Labour-Partei, der laut Umfragen gute Chancen auf einen Sieg bei der
nächsten Wahl 2024 hat, eine Rückkehr in den Binnenmarkt ab.

Dass nun aber debattiert wird und der Brexit nicht mehr der Elefant
im Raum ist, könnte nach Ansicht von Beobachtern durchaus helfen.
Denn um das Land voranzubringen, sei wichtig anzuerkennen, welche
Probleme der Brexit ausgelöst hat. Sonst drohe weiter Stillstand.