Angriffskrieg stürzt Ukraine in Energienot - EU hilft mit Milliarden

22.11.2022 15:58

Die russischen Raketenangriffe der vergangenen Wochen haben
«kolossale Zerstörungen» an Kraftwerken und Stromnetzen der Ukraine
angerichtet. Kiew versucht, mit den Reparaturen hinterherzukommen.

Kiew (dpa) - Der russische Angriffskrieg stürzt die Ukraine bei
Eiseskälte in drastische Energienot. Praktisch alle Wärme- und
Wasserkraftwerke sowie die wichtigen Knotenpunkte des Stromnetzes
seien in den vergangenen Wochen durch Raketen beschädigt worden,
berichtete der Netzbetreiber Ukrenerho am Dienstag. Präsident
Wolodymyr Selenskyj rief die Bürger zum Energiesparen auf. Die
EU-Kommission überwies Kiew 2,5 Milliarden Euro für dringende
Reparaturen und kündigte für 2023 weitere 18 Milliarden Euro an. Die
Lage am umkämpften Atomkraftwerk Saporischschja bleibt heikel.

Russland ist vor knapp neun Monaten in die Ukraine einmarschiert.
Deutschland und andere westliche Länder spüren vor allem den Einbruch
der Konjunktur und drastische Energiepreiserhöhungen - ein Grund,
warum die Bundesregierung die angekündigte Gas- und Strompreisbremse
für private Haushalte und kleinere Firmen nun bereits rückwirkend ab
Januar gelten lassen will. In der Ukraine sind hingegen die
Versorgungssysteme selbst schwer beschädigt, seit Moskau im Oktober
mit gezielten Raketenangriffen begann.

«Das Ausmaß der Zerstörungen ist kolossal», sagte Ukrenerho-Chef
Wolodymyr Kudryzkyj. Dennoch sei es durch Reparaturen gelungen, das
System seit Samstag zu stabilisieren. Es gebe jetzt vor allem
planmäßige und kaum noch Notabschaltungen des Stroms.

Neben Strom könnte der Ukraine auch bald weiteres Gas fehlen. Der
russische Energieriese Gazprom droht mit einer weiteren Drosselung
der Gaslieferungen - mit der Begründung, die Ukraine behalte beim
Transit über sein Territorium Gas ein, das eigentlich für Moldau
gedacht sei. Sollte sich daran nichts ändern, werde der Transit, von
dem auch EU-Länder profitieren, ab kommendem Montag um die täglich
einbehaltene Menge gekürzt.

Moskau meldet Granaten auf Saporischschja

Von dem russisch besetzten Atomkraftwerk Saporischschja meldete
Moskau am Dienstag erneut Granatenbeschuss. Auf dem Gelände in der
Südukraine schlagen seit Monaten immer wieder Geschosse ein, was
Ängste vor einer Nuklearkatastrophe schürt. Die Kriegsparteien
Russland und Ukraine machen sich gegenseitig verantwortlich. Am
Montag hatten Inspekteure der Internationalen Atomenergiebehörde
(IAEA) die Anlage nach Artilleriebeschuss vom Wochenende auf Schäden
überprüft und vorläufig Entwarnung gegeben.

Doch nach der IAEA-Überprüfung seien acht großkalibrige Granaten auf

einen industriellen Teil des Kernkraftwerks gefeuert worden, erklärte
das russische Verteidigungsministerium. Sprecher Igor Konaschenkow
betonte aber, die Strahlung sei weiterhin normal. Die Angaben waren
zunächst nicht unabhängig zu überprüfen. Der Kreml dämpfte aberma
ls
die Aussichten auf eine von der Ukraine und der IAEA geforderte
Schutzzone um das Atomkraftwerk. In diesem Punkt gebe es «keine
nennenswerten Fortschritte», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow.

Kämpfe im Osten und Süden

Heftige Kämpfe wurden vor allem aus der Ostukraine gemeldet. Im
Gebiet Donezk konzentrieren sich die russischen Angriffe nach Angaben
des ukrainischen Generalstabs auf die Städte Awdijiwka und Bachmut.
An anderen Orten sprach der Generalstab von einer «aktiven
Verteidigung» der russischen Truppen - dort greifen also offenbar die
Ukrainer an. Genannt wurden die Orte Kupjansk und Lyman sowie
Nowopawliwka und die Front im Gebiet Saporischschja. Russische
Truppen wehrten sich mit Panzern, Mörsern, Rohr- und
Raketenartillerie, hieß es.

Dem offiziellen Bericht zufolge verstärkten die russischen Truppen in
der Südukraine ihre Verteidigungslinien auf dem südlichen Ufer des
Flusses Dnipro. Nach inoffiziellen Angaben nimmt die ukrainische
Artillerie diesen Raum in Richtung Krim mit ihren weittragenden
Geschützen unter Feuer.

Ukrainischer Geheimdienst durchsucht Klöster

Außerhalb des Kampfgebiets ging der ukrainische Geheimdienst SBU mit
Razzien gegen mehrere Klöster der ukrainisch-orthodoxen Kirche des
Moskauer Patriarchats vor und begründete dies mit Spionageabwehr.
Dazu zählte auch das zum Unesco-Weltkulturerbe gehörende
Höhlenkloster in der Hauptstadt Kiew. Ziel sei es, eventuell
gelagerte Waffen, Spione und Saboteure aufzuspüren. Kremlsprecher
Peskow warf der Ukraine vor, seit langem Krieg gegen die
russisch-orthodoxe Kirche zu führen.

In Moskau verurteilte das Parlament, die Duma, die mutmaßliche
Erschießung russischer Soldaten bei der Gefangennahme durch
ukrainische Streitkräfte. Dies sei ein eklatanter Verstoß der Ukraine
gegen das humanitäre Völkerrecht und das Genfer Abkommen zur
Behandlung von Kriegsgefangenen, erklärte die Duma nach Angaben der
staatlichen Nachrichtenagentur Tass. Kiew weist die Vorwürfe zurück,
die sich auf Videos in sozialen Netzwerken stützen.