Ist das Gesetz oder kann das weg? - Londons Brexit-Feuerwerk Von Larissa Schwedes, dpa
30.01.2023 04:30
Vor drei Jahren hat Großbritannien die EU verlassen. Noch immer sucht
die konservative Regierung nach Wegen, diesen Schritt zum Erfolg zu
machen. Nun will man sich radikal von alten Fesseln lösen.
London (dpa) - Der Brexit, ein Eigentor? Drei Jahre nach dem
EU-Austritt Großbritanniens hält die Mehrheit der krisengeplagten
britischen Bevölkerung den Schritt für einen Fehler, wie Umfragen
zeigen. Für die regierenden Brexit-Befürworter ist der Druck daher
groß wie nie, endlich greifbare Vorteile zu liefern. Mit einem
kontroversen Vorhaben will man sich von allen Fesseln lösen, die aus
den alten Zeiten übrig sind - Mission «Feuerwerk der
EU-Vorschriften».
Vereinfacht besagt das geplante Gesetz: Was seine Wurzeln in der EU
hat, muss weg - Inhalt nebensächlich. Eine Klausel, im Original
«Sunset Clause» genannt, sorgt dafür, dass mit wenigen Ausnahmen wie
etwa für den Finanzsektor alle Gesetze aus EU-Zeiten automatisch zum
Ende des Jahres auslaufen sollen.
Auf die Frage, ob das Vorhaben ideologisch getrieben sei, zögert die
Rechtsexpertin Joelle Grogan von der Denkfabrik UK in a Changing
Europe keine Sekunde: «Fast ausschließlich», lautet ihr Urteil.
Auf den ersten Blick mag der in Großbritannien heimische Otter wenig
mit der Regelarbeitszeit von Angestellten und der Qualität von
Geflügel gemeinsam haben. Doch London macht es möglich, dass ihr
Schutz von dem gleichen Vorhaben bedroht ist - dem sogenannten
«Retained EU Law Bill», der seine erste Hürde im Unterhaus bereits
genommen hat.
Eine Datenbank der Regierung hat 2400 Gesetze identifiziert, die nach
dem Brexit einfach aus dem EU-Recht in britisches Recht kopiert
wurden. Medienberichte gehen davon aus, dass es noch Tausende mehr
sein könnten. «Es ist wirklich erstaunlich, dass Gesetze auslaufen
sollen, von denen wir gar nicht wissen, welche es sind», meint
Juristin Grogan im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.
Während auch Nicht-Brexit-Anhänger gezielte Reformen der übernommenen
Gesetze durchaus begrüßen, sorgt der eingeschlagene Kurs für
Aufsehen. «Die einzige Sicherheit bei diesem Gesetz ist die
Unsicherheit», betont Grogan. Die Liste der Akteure, die schriftlich
Einwände geäußert haben, ist lang: Sie reicht von
Umweltorganisationen über Kreative, Wirtschaftsverbände,
Unternehmensberatungen bis hin zum Facebook-Konzern Meta.
Was sie befürchten, hat es in sich: Chemikalien könnten unreguliert
in Lebensmitteln oder Landwirtschaft landen, Musiker Probleme mit
Urheberrechten bekommen, bedrohte heimische Arten wie Otter oder
Delfine aussterben, Beschäftigte ihren Arbeitgebern schutzlos
ausgeliefert sein oder die Sicherheit auf dem Bau, im Flugzeug, im
Internet oder der Energieversorgung leiden - und das ist nur eine
kleine Auswahl der möglichen Folgen.
Für die Tories geht es primär darum, die versprochenen
«Brexit-Freiheiten» zu nutzen. Premier Rishi Sunak, der in einem
Wahlkampf-Video reihenweise EU-Gesetzestexte in den Papierschredder
beförderte, steht von Seiten der erzkonservativen Brexiteers seiner
Partei enorm unter Druck. «Die Brexiteers sollten sich darum sorgen,
dass das Gesetz, nachdem eine Wunderwaffe versprochen wurde, nur
Fehlschüsse abfeuert», schreibt Politikexpertin Jill Rutter von der
Denkfabrik Institute for Government in einem Gastbeitrag in der
«Financial Times». Doch Sunak will an dem von seinen Vorgängern
eingebrachten Gesetz festhalten und rief kürzlich zu einer
«gemeinsamen Kraftanstrengung» auf. Um Chaos zu verhindern, müssten
in allen Ministerien im Akkord EU-Gesetze geprüft und reformiert
werden, was mit den verfügbaren Ressourcen als unmöglich gilt.
Selbst die britische Wirtschaft scheint das möglichst schnelle Ende
der EU-Regelungen nicht herbeizusehnen: In einer Umfrage des Verbands
British Chambers of Commerce gab etwa die Hälfte von rund 940
befragten Unternehmen an, die Deregulierung habe keine oder nur eine
geringe Priorität für sie. «Unternehmen haben dieses Gesetz nicht
gefordert», sagt dazu William Bain, der sich bei dem Verband um
Handelspolitik kümmert. «Sie fordern kein Feuerwerk der Vorschriften
nur um des Feuerwerks Willen.» Zu große Abweichungen von EU-Regeln
könne den Handel sogar noch weiter erschweren.
Diese Gefahr sieht auch Grogan: Würden allerlei Gesetze auslaufen,
sei es wahrscheinlich, dass Großbritannien damit gegen den
Brexit-Handelsvertrag mit der EU verstoße, da die Vorgaben für
ebenbürtige Wettbewerbsbedingungen nicht mehr gegeben seien.
Als nächstes muss das Gesetz im Oberhaus die nächste Hürde nehmen, wo
deutlicher Widerstand erwartet wird. «Die Lords werden kritisch
sein», ist sich Grogan sicher. Sollte das Gesetz am Ende abgeschwächt
durchkommen, könnte das für Sunaks Regierung sogar eine
gesichtswahrende Lösung bedeuten, meinen manche Experten.
Vorteile können dem «Feuerwerk» außerhalb der Tory-Kreise nur wenig
e
abgewinnen. «Es ist nur geringfügig weniger dumm, als ein Gesetz zu
verabschieden, dass vorsieht, dass Großbritannien bis Ende 2023 eine
Kolonie auf dem Mars haben sollte», kommentiert die «Financial
Times». «Und das hätte immerhin den Vorteil, ambitioniert zu sein und
Gelder für die britische Raumfahrtindustrie bereitzustellen.»