Irreguläre Migration wird zum Belastungstest: Asylrecht einschränken? Von Anne-Béatrice Clasmann und Michel Winde, dpa

17.03.2023 05:15

Bund und Länder streiten mal wieder über die Kosten der Unterbringung
von Asylbewerbern. In der EU wird immer noch über eine Asylreform
verhandelt. Großbritannien schafft derweil Fakten. Wo stehen
Deutschland und die EU?

Berlin/Brüssel (dpa) - Großbritannien will Migranten ohne Visum, die
über den Ärmelkanal ins Land kommen, schnell nach Ruanda ausfliegen.
Auch in Deutschland und der EU wird fieberhaft nach Lösungen gesucht,
die Zahl der neu ankommenden Flüchtlinge zu begrenzen. Denn viele
Aufnahmeeinrichtungen sind überlastet, Kommunen fühlen sich allein
gelassen, die Länder fordern mehr Geld vom Bund. Kommt das britische
Modell auch für die EU in Frage? 

Die Anspannung in Brüssel ist groß. Erst im Februar rief Ratschef
Charles Michel einen EU-Sondergipfel zum Thema Migration ein. Grund
dafür sind fast eine Million Asylanträge im vergangenen Jahr, so
viele wie seit 2016 nicht. Hinzu kamen fast vier Millionen Menschen
aus der Ukraine, die in der EU zwar keinen Asylantrag stellen müssen,
aber auch untergebracht und versorgt werden sollen. Ein Problem für
Länder wie Deutschland, Belgien und die Niederlande ist vor allem die
sogenannte Sekundärmigration - also das unerlaubte Weiterziehen von
Asylsuchenden von einem EU-Land ins nächste.

Warum kommen Asylbewerber aus anderen EU-Staaten nach Deutschland?

Die europäischen Dublin-Regeln sehen im Prinzip vor, dass jeder in
dem EU-Staat, in dem er zuerst registriert wird, seinen Asylantrag
stellen muss. Manche Asylbewerber vermeiden eine Registrierung
deshalb, etwa in Italien oder Griechenland. Das hat vor allem zwei
Gründe: Entweder, jemand möchte wegen Verwandten oder Freunden nach
Deutschland. Oder er oder sie erhofft sich hier bessere Chancen auf
einen gut bezahlten Job beziehungsweise eine bessere Versorgung durch
den Staat. In Griechenland etwa sind die Bedingungen selbst für
anerkannte Flüchtlinge schwierig.

Weshalb hat die Zahl der Schutzsuchenden zuletzt wieder zugenommen?

Das liegt unter anderem sicher an einem Nachholeffekt: Durch die
Corona-Reisebeschränkungen konnten viele geflüchtete Menschen das von
ihnen angestrebte Zielland in den vergangenen Jahren nicht oder nur
mit Verzögerung erreichen. Doch auch Faktoren wie die durch das
Erdbeben noch einmal verschärfte Wirtschaftskrise in der Türkei, wo
viele Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan leben, spielen eine
Rolle. Im Februar gingen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(Bamf) 26 149 Asylanträge ein. Rund 24 000 davon betrafen Menschen,
die erstmals in Deutschland einen Asylantrag stellten - zum
Vergleich: Im Februar 2022 waren es 13 915.

Kann jeder, der nach Deutschland kommt, einen Asylantrag stellen?

Grundsätzlich kann zwar jeder ein Schutzersuchen stellen. Allerdings
gelten die EU-Staaten sowie acht weitere Länder in Europa und Afrika
als sogenannte sichere Herkunftsländer, bei denen davon ausgegangen
wird, dass ein positiver Asylbescheid bei Antragstellern aus diesen
Staaten sehr unwahrscheinlich ist. Ist ein anderer EU-Staat nach den
sogenannten Dublin-Regeln für das Asylverfahren eines Antragstellers
zuständig, kann der Schutzsuchende dorthin zurückgeschickt werden.
Allerdings klappt das häufig nicht, vor allem bei Italien.

Worum geht es bei dem Streit zwischen Bund und Ländern zu den
Flüchtlingskosten?

Länder und Kommunen wollen vom Bund mehr Geld, um etwa Unterkünfte,
Kita-Plätze und Integrationskurse zu bezahlen. Doch es geht nicht nur
um Geld. Die Kommunen wollen zudem, dass Asylbewerber mit schlechter
Bleibeperspektive in den Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder
bleiben, idealerweise bis zu ihrer Ausreise oder Abschiebung. Die
Argumentation: Dadurch blieben mehr Kapazitäten vor Ort, um sich um
Menschen zu kümmern, die länger in Deutschland bleiben. Der Deutsche
Städtetag hat zudem vorgeschlagen, der Bund solle selbst
Einrichtungen für eine Unterbringung von Flüchtlingen bereithalten.

An Innenministerin Nancy Faeser geht außerdem die Aufforderung, vor
allem auf EU-Ebene dafür zu sorgen, dass die Zahl der Asylbewerber
nicht weiter steigt. Vor allem Unionspolitiker wollen außerdem, dass
Faeser bereits zugesagte Aufnahmeprogramme stoppt, etwa für Menschen
aus Afghanistan oder für Bootsflüchtlinge aus Italien.

Was ist aus der EU-weiten Verteilung der Schutzsuchenden geworden?

Faeser wird nicht müde, im Kreis ihrer EU-Kollegen Solidarität bei
der Aufnahme Schutzsuchender einzufordern. Allerdings hat die
SPD-Politikerin kaum noch Mitstreiter an ihrer Seite. Über eine
verbindliche Quote will in Brüssel ohnehin niemand mehr reden. Doch
auch auf freiwilliger Basis nehmen kaum noch Staaten Asylsuchende aus
den Ländern an den Außengrenzen, die besonders unter Druck stehen,
auf. Ein Beispiel dafür ist ein im Juni 2022 beschlossener
Mechanismus, der damals als Erfolg galt: Demnach wollen 13 Staaten
innerhalb eines Jahres 8000 Asylbewerber aus Italien und anderen
Außengrenzstaaten aufnehmen. Tatsächlich sind es bislang nur einige
Hundert - von ihnen hat Deutschland den Löwenanteil übernommen.

Die meisten Länder setzen auf einen restriktiven Kurs in der
Asylpolitik. Sie fordern, dass Zäune an den Außengrenzen aus dem
EU-Haushalt bezahlt werden. Österreich fordert die Möglichkeit zur
Zurückweisung von Migranten an den Außengrenzen - dabei muss es nach
internationalem Recht erlaubt sein, einen Asylantrag zu stellen.

Derzeit ziehen viele Migranten von den Außengrenzstaaten wie Italien
und Griechenland weiter in Länder wie Deutschland, Österreich oder
die Niederlande. Faeser forderte die Regierung in Rom deshalb zuletzt
erneut dazu auf, Asylbewerber zurückzunehmen. Das Land hält sich
allerdings schon seit Monaten nicht mehr an diese Regel. Derzeit
müssten 9000 Migranten aus Deutschland nach Italien zurück.

Was wird auf EU-Ebene gegen die hohen Flüchtlingszahlen getan? 

Eigentlich verhandeln die EU-Staaten und das Europaparlament derzeit
über eine umfassende Reform der Asyl- und Migrationspolitik. Da es
jedoch nur langsam Fortschritt gibt, wird zusätzlich an kurzfristigen
Maßnahmen gearbeitet. Dazu gehört es unter anderem, mehr abgelehnte
Asylbewerber abzuschieben. Denn die sogenannte Rückführungsquote der
EU ist notorisch niedrig, zuletzt lag sie bei 21 Prozent. Dafür soll
etwa über die Visa-Politik Druck auf die Herkunftsländer gemacht
werden, damit sie ihre Landsleute wieder zurücknehmen.

Auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex soll häufiger für
Sammel-Abschiebungen eingespannt werden. Gleichzeitig sollen
Abschiebe-Entscheidungen anderer EU-Staaten häufiger von anderen
Mitgliedstaaten anerkannt werden. Dies würde die Sekundärmigration,
die Deutschland, Belgien und den Niederlanden ein Dorn im Auge ist,
unattraktiver machen.

Wäre das britische Modell eine Option für Deutschland und die EU?

In Großbritannien Asyl zu beantragen, soll nach Plänen der Regierung
deutlich schwieriger werden. Stattdessen sollen Migranten, die über
den Ärmelkanal ins Land kommen, so schnell wie möglich nach Ruanda
ausgeflogen werden, wo ihr Asylantrag bearbeitet werden soll. Dass es
dazu in Deutschland oder der gesamten EU kommt, ist nicht zu
erwarten. Faeser hofft weiter auf Fortschritte bei der Asylreform.
EU-Kommissionsvize Margaritis Schinas sagte mit Blick auf derlei
Pläne jüngst: «Das ist nicht unser Europa. Das ist nicht die
europäische Lebensart.»