Stürmer und Störenfried - Viktor Orban wird 60 Von Gregor Mayer und Ansgar Haase, dpa

30.05.2023 16:59

Seit 13 Jahren herrscht er ununterbrochen über Ungarn. In Europa und
in den USA genießt Viktor Orban die Bewunderung der Rechten. In der
EU nimmt man ihn als Problembären wahr. Spielt er gar selbst mit dem
Gedanken eines Austritts?

Budapest (dpa) - Eines der spannendsten Bücher über Ungarns
Ministerpräsidenten Viktor Orban stammt aus der Feder des Budapester
Journalisten Daniel Pal Renyi. Unter dem Titel «Siegeszwang - Fußball
und Macht in Orbans Welt» (2021) beschreibt Renyi die glühende
Fußballleidenschaft von Ungarns mächtigstem Politiker - und wie
dieser Mobilisierungstechniken, schmutzige Tricks und Kampfstrategien
aus der Welt der Kicker erfolgreich in die Politik übertragen hat.
Der unbedingte Siegeswille begleitet das Leben und Wirken des Viktor
Orban von Jugend an. Am Mittwoch wird er 60.

Der Sohn eines Agrarmaschinentechnikers und einer Lehrerin wuchs in
eher bescheidenen Verhältnissen auf - in einem Dorf bei
Szekesfehervar, 70 Kilometer südwestlich von Budapest. Als
Jurastudent in der Hauptstadt rebellierte er mit Gleichgesinnten
gegen den geistlosen Obrigkeitsstaat im späten Kommunismus. Der Bund
Junger Demokraten (Fidesz), den er mitbegründete, war die erste
unabhängige Jugendorganisation dieser Zeit.

Landesweite Bekanntheit erlangte Orban mit einem Schlag im Juni 1989
beim Neubegräbnis der Märtyrer des ungarischen Volksaufstands von
1956. Mit wehender Mähne und Dreitagebart hielt er eine radikale Rede
gegen die eigentlich schon im Abgang befindlichen Kommunisten und die
noch im Land stationierten sowjetischen Truppen. Der Fidesz, damals
noch links-liberal und basisdemokratisch ausgerichtet, schaffte im
April 1990 den Einzug ins erste frei gewählte Parlament.

Orban wurde Fraktionschef und zog bald mit seinen engsten Gefährten
die Fäden in der Jugendpartei. Den urbanen, links-liberalen Flügel
schaltete er aus, die Partei positionierte er in der rechten Mitte.
Nachdem der erste frei gewählte Ministerpräsident, der Bürgerliche
Jozsef Antall, 1993 gestorben war, blieb Ungarns rechtes Lager
führerlos. Orban stellte sich immer mehr an dessen Spitze. 

1998 wurde er als damals 35-Jähriger erstmals Regierungschef. Unter
dem Schlagwort der bürgerlichen und nationalen Werte pflegte er eine
rechts-nationale Symbolik und schränkte die Kontrollbefugnisse des
Parlaments ein. Als er 2002 überraschend die Wahl und damit die
Regierungsmacht verlor, wollte er sich damit nicht abfinden. Er ließ
seine Anhänger aufmarschieren und beklagte «Wahlbetrug». 

Die Wahl im Frühjahr 2010 brachte dem «Stürmer in der Politik», wie

ihn sein polnischer Biograf Igor Janke bezeichnete, die dauerhafte
Rückkehr an die Macht, noch dazu mit der verfassungsändernden
Zweidrittelmehrheit für seine Fidesz-Fraktion. In der Folge bedeutete
dies: Aushöhlung demokratischer Institutionen, Einschränkung der
Rechte von Minderheiten, Kontrolle über die reichweitenstarken
Medien, Lenkung von staatlichen und EU-Geldern in die Taschen von
Oligarchen, die von ihm abhängen.

Peter Kreko, Direktor der Budapester Denkfabrik Political Capital,
meint, dass Orban das Land transformiert habe. «Ich würde ihn nicht
als Populisten bezeichnen, denn ein Populist richtet sich nach den
Stimmungen in der Bevölkerung», sagt er. «Orban hingegen hat ein
System errichtet, in dem er sich nicht mehr wie ein Chamäleon der
öffentlichen Meinung anpassen muss, sondern selbst die öffentliche
Meinung verändert.»

Auf diese Weise wolle er die Gesellschaft konservativer, religiöser,
geschlossener machen, sagt Kreko. Seine ultra-rechte, autoritäre
Politik werde heute von den Anhängern Donald Trumps, von den Fans der
AfD in Deutschland, der FPÖ in Österreich bewundert. «Vom Mainstream

in Europa koppelt er sich hingegen immer mehr ab.» Die EU hat wegen
Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit einen Gutteil der Gelder für

Ungarn eingefroren.

Orban wiederum hält ungeachtet des russischen Angriffskrieges gegen
die Ukraine weiter enge Kontakte nach Moskau. In den vergangenen
Monaten verhinderte er immer wieder neue EU-Sanktionen gegen Russland
- so etwa ein vollständiges Öl-Embargo oder geplante Strafmaßnahmen
gegen den russisch-orthodoxen Patriarchen Kirill. Der grüne
Europaabgeordnete Daniel Freund wünscht Orban deshalb zum Geburtstag
die «Rente mit 60». Der Ungar habe sich von einem «Freiheitskämpfer

zum Autokraten» entwickelt, kritisiert er. In der EU sei er damit
heute absolut fehl am Platz.

Politikforscher Kreko stellt fest, dass Orbans Rhetorik immer
euro-skeptischer werde. Er habe sogar Sinn und Existenzgrundlage der
EU infrage gestellt, wenn diese - aus seiner Sicht - ihre Hauptziele
Frieden und Wohlstand nicht mehr gewährleisten könne. Kreko erblickt
dahinter eher noch eine Taktik: «Er würde gerne eine Situation
herstellen, aus der heraus er der EU mit dem Austritt drohen kann.»
Dies sei jedoch ein gefährliches Spiel. «Wer mit dem Feuer spielt,
kann sich leicht selbst verbrennen.»