Ringen um schärferen Asyl-Kurs vor anstehenden EU-Verhandlungen

04.06.2023 13:30

Am Donnerstag beraten die Innenminister der EU über eine Reform des
EU-Asylsystems. Dabei soll es auch um Prüfverfahren schon an den
EU-Außengrenzen gehen. Die Bundesregierung verlangt hier Ausnahmen
für Minderjährige und Familien. Das stößt auf Widerspruch.

Berlin (dpa) - Vor wichtigen EU-Beratungen über mögliche schärfere
Asylregeln strebt die Bundesregierung Ausnahmen für Minderjährige und
Familien mit Kindern an - FDP- und Unionspolitiker sind aber dagegen.
FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai befürchtete im Berliner
«Tagesspiegel» (Sonntag), dass dadurch eine Einigung in Europa
gefährdet werden könnte. Der Parlamentsgeschäftsführer der
Unionsfraktion, Thorsten Frei (CDU), sagte dort, die Regierung
versuche, den Ursprungsvorschlag der EU-Kommission «an verschiedenen
Stellen weiter aufzuweichen».

Die EU-Innenminister beraten am kommenden Donnerstag in Luxemburg
über die seit Jahren strittige Reform des Gemeinsamen Europäischen
Asylsystems (GEAS). Es geht unter anderem um die Frage, ob es
Vorprüfungen von Asylanträgen schon an den EU-Außengrenzen geben
soll. Die Bundesregierung will durchsetzen, dass Minderjährige unter
18 und Familien mit Kindern diese Verfahren nicht durchlaufen müssen.
Entsprechend hatten sich Außenministerin Annalena Baerbock und
Familienministerin Lisa Paus (beide Grüne) geäußert. Im
Ursprungsvorschlag der EU-Kommission heißt es bereits: «Unbegleitete
Kinder und Kinder unter 12 Jahren mit ihren Familienangehörigen sind
vom Grenzverfahren ausgenommen, sofern keine Sicherheitsbedenken
bestehen.»

Baerbock erklärte in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, der
Kommissionsvorschlag sei die einzige Chance, auf absehbare Zeit zu
einem «geordneten und humanen Verteilungsverfahren» zu kommen.
«Deshalb verhandeln wir in Brüssel hart, um sicherzustellen, dass
niemand länger als einige Wochen im Grenzverfahren stecken bleibt,
dass Familien mit Kindern nicht ins Grenzverfahren kommen, dass das
Recht auf Asyl im Kern nicht ausgehöhlt wird.»

Paus sagte der Deutschen Presse-Agentur: «Kinder unter 18 Jahren in
Grenzverfahren und damit in eine höchst prekäre Situation zu
schicken, würde eine enorme Kindeswohlgefährdung bedeuten.» Sie
sprach vom Risiko einer erneuten Traumatisierung.
Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann sagte Funke, viele EU-Länder

wollten den Vorschlag der Kommission noch restriktiver machen. «Da
halten wir dagegen.»

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) unterstützte im
«Handelsblatt» erneut das Vorhaben von Grenzverfahren und sagte
lediglich: «Kinder und andere vulnerable Gruppen wollen wir besonders
schützen.» Für den Fall, dass es keine EU-Asylreform gibt,
prophezeite sie ein Ende des kontrollfreien Schengen-Raums:
«Anderenfalls droht eine Rückkehr der Schlagbäume an vielen
europäischen Binnengrenzen - und die Menschen und die Wirtschaft in
der EU wären um Jahrzehnte zurückgeworfen.»

Der CDU-Politiker Frei argumentierte: «Wenn man Familien von den
Verfahren an den Außengrenzen ausnimmt, schwächt das den Ansatz.» Auf

deren Bedürfnisse müsse und könne in den Verfahren selbst Rücksicht

genommen werden.

Gegen Ausnahmen hatte sich auch FDP-Fraktionschef Christian Dürr
ausgesprochen. FDP-Generalsekretär Djir-Sarai verlangte im
«Tagesspiegel» an den EU-Außengrenzen eine menschenwürdige Versorgu
ng
aller Flüchtlinge und ein effizientes Asylverfahren: «Wenn diese
Regeln gelten, dann braucht es auch keine Debatte zu möglichen
Ausnahmen, die eine Einigung in Europa wieder nur gefährden würden.»


Schauspieler, Musiker und andere Prominente sprachen sich in einem
offenen Brief an die Bundesregierung gegen eine Verschärfung der
Asyl-Politik etwa mit Grenzverfahren aus. Als Unterzeichner des
Internetaufrufs wurden unter anderem Herbert Grönemeyer, die Bands
Kraftklub und Revolverheld, die Schauspieler Katja Riemann und Benno
Fürmann sowie Fernsehmoderatorinnen und -moderatoren wie Klaas
Heufer-Umlauf und Ruth Moschner aufgelistet. Der Regierung wird im
Schreiben vorgeworfen, statt versprochener Verbesserungen «nun den
massivsten EU-Asylrechtsverschärfungen jemals» zustimmen zu wollen.

Hintergrund der EU-Beratungen sind die gestiegenen Migrantenzahlen.
Seit Monaten versuchen sehr viele, von Nordafrika über das Mittelmeer
Süditalien zu erreichen. Nach Angaben aus Rom kamen seit Januar mehr
als 50 000 Migranten auf Booten nach Italien. Dem
UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zufolge starben seit Jahresanfang bei
Überfahrten mehr als 980 Menschen oder werden seither vermisst. In
Deutschland wurden in den ersten vier Monaten dieses Jahres gut
100 000 Asylerstanträge vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

entgegengenommen, eine Zunahme um rund 78 Prozent.

Der Chef der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber (CSU),
verteidigte die Idee von Asylverfahren an den Grenzen. In der «Neuen
Osnabrücker Zeitung» sprach er sich zugleich dafür aus, dass die
Bundespolizei Schiffe ins Mittelmeer schickt, um in Seenot geratene
Menschen zu retten - wie früher bei der EU-Marinemission «Sophia».

Parlamentsgeschäftsführer Frei (CDU) widersprach: «Je mehr Schiffe
im
Mittelmeer zur Rettung unterwegs sind, desto mehr Menschen machen
sich mit seeuntauglichen Booten auf den gefährlichen Weg und bringen
sich in Lebensgefahr.»