Grüne nach EU-Asylkompromiss vor heftigen Debatten Von Martina Herzog, Ansgar Haase, Sabrina Szameitat und Jörg Blank, dpa

09.06.2023 06:55

In ihren anderthalb Jahren Regierungszeit haben die Grünen schon
einige Kompromisse gemacht. Nun kommt ein weiterer hinzu:
Ausgerechnet mit ihrer Beteiligung beschließen die EU-Staaten eine
Verschärfung der Asylregeln. Das stößt einigen übel auf.

Berlin (dpa) - Nach der Zustimmung der Bundesregierung zur geplanten
Verschärfung der europäischen Asylregeln zeichnen sich hitzige
Diskussionen bei den Grünen ab. Kaum hatten die EU-Innenministerinnen
und -minister die Einigung ihrer Staaten in Luxemburg besiegelt,
meldeten sich die Doppelspitzen sowohl der grünen Partei- als auch
Fraktionsführung mit je zwei unterschiedlichen Bewertungen zu Wort.
Nachdem die Grünen als Teil der Ampel-Regierung mit SPD und FDP den
schwierigen europäischen Kompromiss zugelassen haben, distanziert
sich ein Teil des Führungspersonals öffentlich davon - bemerkenswert.

Was beschlossen wurde

Die Asylverfahren in der EU sollen angesichts der Probleme mit
illegaler Migration deutlich verschärft werden. Eine ausreichend
große Mehrheit an Ministern stimmte für umfassende Reformpläne.
Vorgesehen ist insbesondere ein deutlich härterer Umgang mit
Migranten ohne Bleibeperspektive. So sollen ankommende Menschen aus
als sicher geltenden Ländern künftig nach dem Grenzübertritt unter
haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte
Aufnahmeeinrichtungen kommen. Dort würde dann im Normalfall innerhalb
von zwölf Wochen geprüft, ob der Antragsteller Chancen auf Asyl hat.
Wenn nicht, soll er umgehend zurückgeschickt werden.

Die Bundesregierung hatte sich in den Verhandlungen nachdrücklich
dafür eingesetzt, dass Familien mit Kindern von den sogenannten
Grenzverfahren ausgenommen werden. Auch Außenministerin Annalena
Baerbock und Vizekanzler Robert Habeck (beide Grüne) meldeten sich in
diesem Sinne zu Wort. Um den Durchbruch zu ermöglichen, mussten sie
allerdings letztlich akzeptieren, dass dies doch möglich sein könnte.

Faeser: Bundesregierung will sich weiter für Ausnahmen einsetzen

Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte nach der Entscheidung
allerdings, dass sich die Bundesregierung gemeinsam mit Portugal,
Irland und Luxemburg weiter für Ausnahmen einsetzen werde. Denkbar
ist auch, dass das EU-Parlament noch Änderungen durchsetzt. Es hat
bei der Reform ein Mitspracherecht und wird in den kommenden Monaten
mit Vertretern der EU-Staaten über das Projekt verhandeln.

Neben schärferen Verfahren mehr Solidarität

Zudem sehen die am Donnerstag beschlossenen Pläne auch mehr
Solidarität mit den stark belasteten Mitgliedstaaten an den
EU-Außengrenzen vor. Sie soll künftig nicht mehr freiwillig, sondern
verpflichtend sein. Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen,
würden zu Ausgleichszahlungen gezwungen. Länder wie Ungarn stimmten
deswegen gegen den Plan. Nach Angaben der zuständigen Kommissarin
Ylva Johansson können abgelehnte Asylbewerber künftig grundsätzlich
auch in Nicht-EU-Länder abgeschoben werden. Einzige Voraussetzung
soll sein, dass sie eine Verbindung zu diesem Land haben.

Die vielstimmigen Grünen

Führende Grüne mühten sich nach der für viele in der Partei
schmerzhaften Entscheidung um eine gemeinsame, wenn auch nicht
einheitliche Kommunikation. So meldete sich Co-Parteichef Omid
Nouripour mit einer Serie an Tweets zu Wort, in denen er das Für und
Wider abwog, mit dem Ergebnis: «In der Gesamtschau komme ich zu dem
Schluss, dass die heutige Zustimmung ein notwendiger Schritt ist, um
in Europa gemeinsam voranzugehen.»

Mit-Parteichefin Ricarda Lang äußerte sich ähnlich differenziert,
aber mit dem Resultat, «dass Deutschland bei dem Vorschlag zur
GEAS-Reform im Rat heute nicht hätte zustimmen dürfen.» Sie schrieb
aber auch: «Das ist eine verdammt schwierige Entscheidung, die sich
niemand leicht gemacht hat. Deshalb habe ich Respekt für alle, die in
der Gesamtabwägung zu einem anderen Entschluss gekommen sind als
ich.» GEAS steht für Gemeinsames Europäisches Asylsystem. Die
Fraktionschefinnen Britta Haßelmann (dafür) und Katharina Dröge
(dagegen) hielten es ähnlich wie die Spitzen der Partei.

Massive Kritik kam auch von Europaparlamentariern der Grünen. «Die
EU-Mitgliedsstaaten haben ihren moralischen Kompass verloren»,
monierte der Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament, Rasmus
Andresen. «Es ist beschämend, dass auch die deutsche Innenministerin
Nancy Faeser mit Zustimmung der Ampel-Koalition diesem Vorschlag
zugestimmt hat.» Die Fraktionschefin im Europaparlament, Terry
Reintke, monierte: «Die Position des Rats widerspricht europäischen
Werten wie den Grundrechten und der Achtung der Rechtsstaatlichkeit.»
Die Fraktion lehne den Beschluss des Rats ab.

Außenministerin Annalena Baerbock und Vizekanzler Habeck verteidigten
den Kompromiss unter Verweis auf die Notwendigkeit einer Einigung in
Europa. «Ich habe hohe Achtung vor denen, die aus humanitären Gründen

zu anderen Bewertungen kommen», sagte Habeck der Deutschen
Presse-Agentur. «Ich hoffe, sie sehen auch, dass es Gründe gibt,
dieses Ergebnis anzuerkennen.» Eine Hoffnung, die an diesem Abend
nicht nur er ausdrückte. Zustimmung kam in ersten Wortmeldungen eher
von Vertretern des Realo-Flügels, Ablehnung von linken Grünen.

Baerbock auf Mission Überzeugung von Kolumbien aus

Baerbock strich bei ihrem Besuch in Kolumbien am Donnerstag einen
Teil ihres Programms, um in Videoschalten in Partei und Fraktion für
den Kompromiss zu werben. Schnell nach der Einigung machte sie dann
von Cali aus ihre Linie auch öffentlich klar. «Zur Ehrlichkeit
gehört: Wenn wir die Reform als Bundesregierung alleine hätte
beschließen können, dann sähe sie anders aus», teilte sie mit. «A
ber
zur Ehrlichkeit gehört auch: Wer meint, dieser Kompromiss ist nicht
akzeptabel, der nimmt für die Zukunft in Kauf, dass niemand mehr
verteilt wird.»

Im Klartext: Hätte man in Luxemburg die Außengrenzen-Länder Italien
und Griechenland überstimmt und nicht im Kompromiss mitgenommen,
würde der angestrebte Dreiklang aus Registrierung, Verteilung und
Grenzverfahren ohnehin kaum klappen. Die Bereitschaft von Rom oder
Athen, bei der Registrierung mitzumachen, wäre dann wohl gegen Null
gegangen - und das ganze Konzept gescheitert.

Baerbock hatte schon in ihrer Mitteilung drastisch klar gemacht, was
für sie in der Abwägung Regierungsverantwortung bedeutet: Hätte
Deutschland etwa mit Polen und Ungarn gegen den Kompromiss gestimmt,
«wäre eine gemeinsam europäische solidarische Asylpolitik auf Jahre
tot». All jene, die in Europa ohnehin nationale Mauern wieder
hochziehen wollten, hätten einen Freifahrtschein. «Auch um unser
Europa ohne Kontrollen an den Binnengrenzen zu erhalten, war dieser
Kompromiss nötig», ergänzte sie.

Grüne Jugend entgeistert

Geradezu entgeistert äußerte sich das Führungsduo der
Nachwuchsorganisation Grüne Jugend, Timon Dzienus und Sarah-Lee
Heinrich. Dzienus schrieb über den Kompromiss auf Twitter: «Das ist
unmenschlich und ich werde das so nicht akzeptieren». Heinrich
schrieb: «Ich bin fassungslos. Abschottung sorgt nicht dafür, dass
weniger Menschen fliehen. Es bedeutet, dass mehr Menschen leiden.»
Fast 500 Grüne hatten zuletzt in einem Schreiben an Spitzenvertreter
ihrer Partei vor den Asylplänen gewarnt.