Verzweifelte Suche nach Überlebenden in Libyen Von Christina Storz, Arne Bänsch, Ramadan Al-Fatash, dpa

13.09.2023 18:17

Heftigster Regen reißt in Libyen Tausende in den Tod, ganze Regionen
sind von der Außenwelt abgeschnitten. Aufnahmen zeigen das Ausmaß der
Katastrophe. Auch aus Deutschland kommt Hilfe.

Bengasi (dpa) - Nach den katastrophalen Überschwemmungen in Libyen
herrscht in dem Bürgerkriegsland weiter Ausnahmezustand. Allein in
der besonders schwer getroffenen Hafenstadt Darna sind mehr als
30 000 Menschen obdachlos geworden, wie die Internationalen
Organisation für Migration (IOM) auf X, ehemals Twitter, mitteilte.
Rettungskräfte suchten am Mittwoch weiter nach Toten. Rund 10 000
Menschen gelten als vermisst, doch die Hoffnung schwindet allmählich.
Nach Angaben der Verwaltung im Osten des Landes kamen mehr als 5000
Menschen ums Leben. Die genaue Zahl ist nur schwer unabhängig zu
beziffern.

Menschen in Libyen beerdigen ihre Toten

Der Sturm «Daniel», der zuvor auch in Griechenland wütete, hatte am
Sonntag das nordafrikanische Land erfasst. Nahe der Küstenstadt Darna
brachen zwei Dämme, ganze Viertel der Stadt mit ihren rund 100 000
Einwohnern wurden ins Meer gespült. Videos in sozialen Medien zeigten
Fahrzeugkolonnen, die Tote abtransportierten, auf anderen Aufnahmen
trieben Leichen im Meer. Auch neue Drohnenaufnahmen zeigen die
dramatische Lage. Ganze Straßenzüge Darnas sind in meterhohem Schlamm
versunken. Helfer suchen unter den Erdmassen nach Überlebenden.

Die Hilfsorganisation Care Libyen teilte mit, bei einem Wasserstand
von bis zu zehn Metern sei das Gebiet um Darna völlig zerstört sowie
die Kommunikations- und Stromnetze lahmgelegt worden. Der
Bürgermeister in Schahat sprach von rund 20 000 Quadratkilometern
überfluteter Gebiete - eine Fläche etwa so groß wie Sachsen-Anhalt.
Die betroffenen Regionen wurden zu Katastrophengebieten erklärt.

Ein Sprecher der Regierung im Osten des Landes sagte, mehr als 1000
unidentifizierte Leichen seien am Mittwoch in Massengräbern beerdigt
worden. Insgesamt wurden demnach bereits mehr als 3000 Menschen
beigesetzt. Hilfsorganisationen, Politiker und die Armee rechnen
damit, dass die Zahl der Toten noch weiter steigen könnte.

Immer mehr Länder bieten Hilfe an

Ein Sprecher des UN-Generalsekretärs António Guterres in New York
sagte, man arbeite mit lokalen, nationalen und internationalen
Partnern zusammen, «um den Menschen in den betroffenen Gebieten
dringend benötigte humanitäre Hilfe zukommen zu lassen». Ein UN-Team

sei vor Ort. Neben Darna waren auch andere Städte wie Al-Baida,
Al-Mardsch, Susa und Schahat betroffen.

Die Europäische Union hat ihr Katastrophenschutzverfahren aktiviert
und koordiniert darüber Hilfsangebote aus den verschiedenen
EU-Ländern. Außerdem stellte sie zunächst 500 000 Euro an humanit
ären
Mitteln zur Verfügung. Das Technische Hilfswerk (THW) wollte noch am
Mittwochabend Hilfslieferungen auf den Weg bringen. Da man ständig
Güter für solche Anfragen lagere, könne man nun kurzfristig Zelte mit

Beleuchtung, Feldbetten, Decken, Isomatten sowie Stromgeneratoren zur
Verfügung stellen, sagte THW-Präsidentin Sabine Lackner. Libyen hatte
zuvor ein entsprechendes internationales Hilfeersuchen gestellt.

Experte: Waren beim Klimawandel zu sorglos

Die schweren Unwetter in der Mittelmeerregion lassen sich nach
Expertenmeinung wahrscheinlich dem Klimawandel zuordnen. In der
letzten Woche seien Niederschläge gemessen worden, die es so in
Europa noch nie gegeben habe, sagte der Kieler Meteorologe Mojib
Latif im Bayerischen Rundfunk. «Ich glaube, wir waren viel, viel zu
sorglos, was den Klimawandel angeht.» Dies ändere sich gerade.

«Klimawandel bedeutet nicht einfach nur höhere Temperaturen, sondern
bedeutet vor allem extremeres Wetter, mehr Schadenspotenzial und vor
allen Dingen auch eine gigantische Herausforderung», sagte Latif. Man
könne sich ein Stück weit anpassen, aber es gebe auch Grenzen: «Bei
solchen Wassermassen, was wollen sie (in Libyen) da noch tun?»

Ein vom Bürgerkrieg geschwächtes Land

Derzeit kämpfen zwei verfeindete Regierungen - eine mit Sitz im
Osten, die andere mit Sitz im Westen - um die Macht. Alle
diplomatischen Bemühungen, den bis heute andauernden Bürgerkrieg
friedlich beizulegen, scheiterten bislang. Zahlreiche
Konfliktparteien ringen um Einfluss, nachdem Langzeitmachthaber
Muammar al-Gaddafi 2011 gewaltsam gestürzt worden war.

Laut Libyen-Experte Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und
Politik (SWP) ist die Katastrophe in dem Land auch mit der
politischen Situation verknüpft. «Der Grund für das Ausmaß der
Katastrophe ist der Bruch dieser zwei Dämme oberhalb von Darna»,
sagte er dem ZDF. Jahrelang sei dort nicht ausreichend in die
Infrastruktur investiert worden. «Gaddafi hat damals die Stadt dafür
bestraft, dass in ihr Aufständische die Waffen ergriffen hatten.»

Zwar sei in den letzten Jahren immer etwas Geld geflossen, «aber das
ging unter anderem in die Taschen von Milizenführern und
Kriegsprofiteuren».

Darna hat eine lange und auch leidvolle Geschichte

Die Geschichte von Darna reicht bis in die Zeit der Römer zurück.
Umgeben von Bergen und Wüsten war die Hafenstadt auch geprägt von der
italienischen Besatzung zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Immer wieder war Darna aber auch Zentrum von Konflikten. So galt die
Küstenstadt zeitweise als Enklave der Dschihadistenmiliz Islamischer
Staat (IS). 2019 nahmen Truppen des Generals Chalifa Haftar nach
monatelangen Kämpfen Darna komplett ein.