) Mutter aller Krisen? - Lehman-Pleite wirkt nach Von Jörn Bender, dpa

15.09.2023 10:32

Bankenkrise, Börsencrash, BIP-Absturz: Die Pleite der
US-Investmentbank Lehman Brothers im Herbst 2008 hatte immense
Folgen. Wie tief der Schock sitzt, zeigt sich noch 15 Jahre danach.

Frankfurt/New York (dpa) - «Lehman 2.0» - wann immer eine Krise sich
zuspitzt, ist der Vergleich mit dem Herbst 2008 nicht weit. 2020
Corona-Pandemie: Trifft das Virus die Wirtschaft verheerender als die
Finanzkrise 2008/2009? 2021 Evergrande: Beginnt mit der Schieflage
des chinesischen Immobiliengiganten ein Abwärtsstrudel? 2023 Silicon
Valley Bank und Credit Suisse: Sind die Probleme regionaler US-Banken
und die Notübernahme der zweitgrößten Schweizer Bank der Anfang einer

weltweiten Krise? Die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers am
15. September 2008 hat sich tief ins kollektive Gedächtnis
eingegraben. In den 15 Jahren seither hat sich jedoch viel verändert.

Rückblende: Nach einem dramatischen Wochenende mit Verhandlungen bis
tief in die Nacht steht an einem Montagmorgen im September 2008 fest:
Die Rettung der weltweit vernetzten US-Investmentbank Lehman Brother
ist gescheitert. Der Staat lässt eine 158 Jahre alte Bank fallen, die
eigentlich als zu groß zum Scheitern galt («too big to fail»). Bilder

von Bankern, die ihr Hab und Gut in Kartons gestopft aus einem New
Yorker Büroturm tragen, gehen um den Globus. Die wegen der
US-Immobilienkrise bereits seit Monaten alarmierte Finanzwelt steht
unter Schock, die Weltwirtschaft gerät an den Rand des Kollaps.

Eilig schnüren Regierungen milliardenschwere Rettungspakete, die
großen Notenbanken senken in einer Notfallaktion gemeinsam die
Zinsen. Allein die Staaten der Europäischen Union pumpen in den
Monaten nach der Lehman-Pleite rund 1,6 Billionen Euro in
strauchelnde Banken. Der teure Feuerwehreinsatz verhindert das
Schlimmste gerade noch, auch wenn die Konjunktur einbricht und der
Abwärtssog weitere Geldhäuser in den Abgrund reißt.

Nach der großen Krise beginnt das große Aufräumen: Mehr Kontrolle und

schärfere Regeln sollen die eng verflochtene Finanzwelt krisenfester
machen. Generell sind Geldhäuser heute verpflichtet, Risiken durch
mehr eigenes Kapital abzusichern. Regelmäßig müssen die Institute
sowohl in den USA als auch in Europa in Stresstests beweisen, dass
die Puffer auch im Fall extremer Krisensituationen ausreichen würden.

Die Europäer setzen zudem auf ein Dreigestirn aus zentraler
Bankenaufsicht, gemeinsamen Regeln zur Sanierung und notfalls
Schließung von Banken sowie einem grenzübergreifenden Schutz der
Guthaben von Bankkunden. Doch während die neue Euro-Bankenaufsicht
(«Single Supervisory Mechanism»/SSM) unter Führung der Europäischen

Zentralbank (EZB) seit November 2014 und die gemeinsame europäische
Bankenabwicklung («Single Resolution Mechanism»/SRM) seit Anfang 2016
etabliert sind, scheitert die gemeinsame EU-Einlagensicherung bis
heute an Widerständen - unter anderem aus Deutschland mit seinen
vergleichsweise gut gefüllten Notfalltöpfen.

Dennoch fällt das Fazit von Aufsehern positiv aus. Seit der
Finanzkrise 2007/2008 sei das globale Finanzsystem stabiler geworden,
sagte der Präsident der deutschen Finanzaufsicht Bafin, Mark Branson,
im Mai 2023 angesichts seinerzeit aufkommender Sorgen, die Serie von
Bankenpleiten in den USA könnte der Beginn einer neuen weltweiten
Systemkrise sein.

«Wir haben bereits vieles geschafft, doch wir sind noch lange nicht
fertig», sagte Branson. «Aus meiner Sicht müssen wir es schaffen,
dass die Schieflage eines kleineren oder mittelgroßen Instituts keine
unnötigen Ansteckungsängste mehr auslöst.» Zudem müssten auch gro
ße,
systemrelevante Banken im Fall einer Schieflage abgewickelt werden
können. «Das war ein zentrales Anliegen der Reformen nach der Krise
2007/2008. Nie wieder sollte ein Institut zu groß zum Scheitern sein.
Dieses Ziel dürfen wir nicht aufgeben», mahnte der Chef der
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin).

Allerdings: Internationale Standards für die Finanzbranche
durchzusetzen ist trotz aller politischen Bekundungen alles andere
als einfach. Die Umsetzung der 2017 verabschiedeten Bankenreformen -
im Fachjargon «Basel III» und «Basel IV» genannt - zieht sich seit

Jahren. Die USA lockerten unter Präsident Donald Trump sogar die
Vorschriften für mittelgroße Banken.

Im Lichte der jüngsten Entwicklungen mahnte im April 2023 der
Finanzstabilitätsrat die Finanzminister und Notenbankgouverneure
wichtiger Wirtschaftsnationen (G20): «Die vollständige, rechtzeitige
und konsequente Umsetzung der internationalen Finanzstandards bleibt
der Schlüssel zur Stärkung der globalen Finanzstabilität.» Der
international besetzte Finanzstabilitätsrat (Financial Stability
Board/FSB) soll Schwachstellen des weltweiten Finanzsystems
identifizieren, Vorschläge zu ihrer Beseitigung unterbreiten und
deren Umsetzung überwachen.

Über allem schwebt die bange Frage: Kann ein Fall wie Lehman sich
wiederholen? Den jüngsten Stresstest zumindest haben Europa große
Banken in Summe besser überstanden als die Krisenübung zwei Jahre
zuvor. Eine Verschärfung der geopolitischen Spannungen plus ein
Wiederaufleben der Corona-Pandemie unterstellt, müssten die
Geldhäuser demnach binnen drei Jahren Verluste von 496 Milliarden
Euro verkraften. Obwohl ihre Kapitalpuffer dabei um 271 Milliarden
Euro schrumpfen würden, könnten die Banken die Wirtschaft auch in
einer derart ernsthaften Konjunkturkrise noch unterstützen, stellte
die europäische Bankenaufsicht EBA fest - und dass, obwohl die EBA
nach eigenen Angaben noch nie ein so harte Krisenszenario simuliert
hat wie im Stresstest 2023.