Rettungsversuch auf Lampedusa Von Robert Messer, Anne-Béatrice Clasmann, Marek Majewsky und Lena Klimkeit, dpa
17.09.2023 17:25
Kurzerhand reist die EU-Kommissionschefin auf die Mittelmeerinsel
Lampedusa, wo sich das ganze Dilemma der europäischen
Migrationspolitik zeigt. Ein Scheitern der EU-Asylrechtsreform will
von der Leyen unbedingt verhindern - und dafür braucht sie Italien.
Lampedusa (dpa) - Die Eile, mit der EU-Kommissionschefin Ursula von
der Leyen der Einladung von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia
Meloni nach Lampedusa folgte, macht den ganzen Ernst der Lage
deutlich. Auf der kleinen Mittelmeerinsel sind in den vergangenen
Tagen wieder Tausende Migranten angekommen. Seit Jahren steht das
Eiland sinnbildlich für das ganze Dilemma der europäischen
Migrationspolitik. Und angesichts der jüngsten Entwicklungen wächst
die Gefahr, dass die geplante EU-Asylrechtsreform vollends scheitert.
Von der Leyen will das verhindern - und braucht dafür Italien, das zu
den EU-Staaten an der Außengrenze der Union gehört, in denen viele
Migranten europäischen Boden erstmals betreten. Meloni wiederum steht
innenpolitisch massiv unter Druck, die Flüchtlingszahlen zu senken.
2022 versprach sie im Wahlkampf mit schrillen Tönen, die Migration
nach Italien massiv einzuschränken - nun verzeichnet das
Mittelmeerland Ankunftszahlen in Rekordhöhe.
Von dem Besuch dürften sich also beide Politikerinnen erhofft haben,
ein Signal auszusenden. Doch auch der gemeinsame Auftritt kann nicht
darüber hinwegtäuschen, wie weit die Vorstellungen in der
Migrationspolitik auseinandergehen.
Nach einem Besuch im Erstaufnahmelager und an der für
Migranten-Ankünfte vorgesehenen Mole stellt von der Leyen am Sonntag
auf Lampedusa einen 10-Punkte-Plan gegen illegale Migration vor, der
auch Italien Unterstützung zusichern soll. Eine stärkere Überwachung
des Mittelmeeres kündigt sie an, ein besseres Training für die
tunesische Küstenwache und härteres Vorgehen gegen das «brutale»
Geschäft der Schlepper. Eine konkrete Lösung hat sie - wenig
überraschend - nicht im Gepäck.
Meloni macht ihrerseits diplomatisch, aber unmissverständlich
deutlich, dass sie eine radikale Kehrtwende auf EU-Ebene erwartet.
Und auch gegen Migranten, die bereits im Land sind, will sie eine
härtere Gangart durchsetzen.
Schon an diesem Montag soll das Kabinett ihrer rechten
Regierungskoalition entsprechende Maßnahmen auf den Weg bringen. Vor
dem Besuch von der Leyens hatte sie in einem Video eine EU-Mission
gefordert, um Migranten an der Überfahrt zu hindern - notfalls mit
dem Einsatz der Marine. Am Sonntag macht die ultrarechte Politikerin
erneut deutlich, dass die Verhinderung der Überfahrten für sie der
einzig denkbare Weg ist. Weiter über Umverteilung der Menschen zu
reden, löse das Problem nicht, sagt sie.
Damit legt sie den Finger in die Wunde: Den EU-Staaten ist es bis
heute nicht gelungen, eine umfassende Reform des europäischen
Asylsystems zu verabschieden. Eigentlich soll die EU-Asylpolitik bis
zu den anstehenden Wahlen Mitte 2024 reformiert werden. Im Juni gab
es dazu auch eine Einigung der EU-Innenminister. Asylverfahren sollen
demnach deutlich verschärft werden. Der Vorschlag - vor allem der
darin vorgesehene Solidaritätsmechanismus - stößt bei einigen Staaten
auf Ablehnung.
Es sind nicht nur Staaten an den EU-Außengrenzen wie Italien und
Griechenland, die die Migration betrifft. Darauf weist sogar Meloni
hin, um ihr Anliegen zu unterstreichen. «Wenn wir nicht ernsthaft und
gemeinsam gegen die illegalen Überfahrten vorgehen, werden die Zahlen
dieses Phänomens zuerst die Staaten an den Außengrenzen überrollen,
aber dann alle anderen.» Im Fokus stehen auch Staaten, die das Ziel
einer besonders hohen Zahl von Asylbewerbern sind - hier steht
Deutschland an erster Stelle.
Wie Meloni in Italien steht auch die für die deutsche
Migrationspolitik verantwortliche Bundesinnenministerin Nancy Faeser
(SPD) unter Druck. In den ersten acht Monaten dieses Jahres haben
mehr als 204 000 Menschen hierzulande erstmals einen Asylantrag
gestellt, rund 77 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Viele
stammen aus Syrien oder Afghanistan, die gute Chancen haben, bleiben
zu dürfen - wenn sie nicht vorher in einem anderen EU-Staat
registriert wurden. Und selbst bei denjenigen, die das Land wieder
verlassen müssten, klappt es oft nicht mit der Abschiebung.
Für Faeser, die Spitzenkandidatin der SPD im hessischen Wahlkampf
ist, ist das ein Problem. Bei einer im August veröffentlichten
Forsa-Erhebung für den Deutschen Beamtenbund war gefragt worden, auf
welchen Feldern der Staat überfordert sei. Während kurz nach dem
Beginn des Ukraine-Krieges mit 17 Prozent die Energieversorgung oben
stand, ist es jetzt mit 26 Prozent die Asyl- und Flüchtlingspolitik.
Faeser versucht, beim Thema Migration eine Balance zu finden. Auf der
einen Seite setzte sie die Aufnahme neuer Asylbewerber aus Italien
über den sogenannten Solidaritätsmechanismus aus - mit der
Begründung: Italien habe dieses Jahr nur zehn Rückführungen von zuvor
im Land registrierten Asylbewerbern aus Deutschland erlaubt. Auf der
anderen Seite sperrt sie sich gegen den Ruf, nicht nur in Bayern,
sondern künftig auch an weiteren Grenzabschnitten stationäre
Kontrollen zu etablieren.
Gleichzeitig betont die Ministerin, Deutschland werde sich in der
europäischen Asylpolitik weiterhin solidarisch verhalten, und
verweist auf den Kompromiss, der im Kreis der EU-Innenminister im
Juni erzielt worden war. Dieser Asylkompromiss ist allerdings bislang
nur ein Dokument ohne Wirkung. Ob die notwendigen Verhandlungen mit
dem EU-Parlament vor den Wahlen abgeschlossen werden können, ist
offen.
Hoffnungen liegen auch auf der anderen Seite des Mittelmeeres. Etwa
in Tunesien, wo Meloni und von der Leyen erst vor zwei Monaten
gemeinsam waren, um einen Deal auszuhandeln. Als eines der
wichtigsten Transitländer für Migranten auf dem Weg nach Europa soll
Tunesien im Gegenzug für millionenschwere Finanzhilfen künftig
stärker gegen Schlepper und illegale Überfahrten vorgehen. Und weil
die Boote, die von der nur rund 190 Kilometer von Lampedusa
entfernten tunesischen Hafenstadt Sfax starten, nicht weniger werden,
setzt sich Meloni besonders dafür ein.
Die Opposition in Italien sieht den Tunesien-Deal schon als
gescheitert an. Auch Melonis Wählerschaft wird ungeduldiger und
fordert Ergebnisse. Forderungen kommen auch aus ihrer Regierung.
Vize-Regierungschef Matteo Salvini sprach mit Blick auf die Vielzahl
der Schutzsuchenden als «Akt des Krieges» und witterte etwas
«Organisiertes, um eine Regierung in Schwierigkeiten zu bringen».
Von der Leyen sagt am Sonntag, die EU dürfe Italien nicht allein
lassen - ein Satz, der in den vergangenen Jahren oft zu hören war.
Auch der Appell an die anderen EU-Staaten, freiwillig Migranten aus
Italien aufzunehmen, ist nicht neu. «Italien kann sich auf die
Europäische Union verlassen», sagt die deutsche Spitzenpolitikerin
auf Italienisch und lächelt Meloni zu.