«Teilzeitsolidarität»: Özdemir rügt Blockade von Ukraine-Getreide

18.09.2023 21:54

Die Slowakei, Polen und Ungarn rebellieren gegen die EU-Kommission.
Offen widersetzen sie sich auf Drängen ihrer Bauern gegen Brüssel und
halten an Einfuhrbeschränkungen ukrainischer Waren fest. Der Streit
entwickelt sich zur Frage: Wie weit geht die Solidarität der EU?

Brüssel (dpa) - Die von Polen, Ungarn und der Slowakei eigenständig
aufrechterhaltenen Einfuhrbeschränkungen von ukrainischem Getreide
sind nach Ansicht von Bundesagrarminister Cem Özdemir wohl nicht mit
EU-Recht vereinbar. Er sehe keinen Anlass für solche Maßnahmen, sagte
der Grünen-Politiker am Montag vor einem Treffen mit seinen
EU-Kolleginnen und -kollegen in Brüssel. «Ich sehe auch nicht, wie
das mit EU-Recht in Übereinstimmung zu bringen ist», ergänzte er.
Nach seinen Informationen nehme der Markt das ukrainische Getreide
gut auf.

Bis Freitag hatte eine Regelung der EU-Kommission es den östlichen
EU-Mitgliedern Ungarn, Polen, Slowakei, Rumänien und Bulgarien
erlaubt, den freien Handel mit Produkten wie Weizen, Mais, Raps oder
Sonnenblumen aus der Ukraine auf ihren Märkten zu beschränken. Diese
war am Freitag jedoch ausgelaufen. Die Kommission hatte sich damit
gegen Forderungen aus EU-Staaten wie Polen und Ungarn gestellt, die
eine Verlängerung gefordert hatten.

Als Reaktion hatten die beiden Staaten und die Slowakei angekündigt,
die Maßnahmen auch ohne Zustimmung Brüssels aufrechtzuerhalten.
Begründet wird dies damit, einheimische Landwirte vor zu großer
Konkurrenz durch deutlich gestiegene Einfuhren aus der Ukraine zu
schützen. «Das ist eine Part-Time-Solidarity» (Teilzeitsolidarität)
,
kritisierte Özdemir. Der einzige, dem das helfe, sei der russische
Präsident Wladimir Putin. «Der reibt sich die Hände.»

Kiew hat gegen die drei EU-Staaten Klage bei der
Welthandelsorganisation (WTO) eingereicht. «Für uns ist es
prinzipiell wichtig, zu beweisen, dass einzelne Mitgliedsstaaten kein
Importverbot gegen ukrainische Waren verhängen können», sagte die f
ür
Wirtschaft zuständige Vizeregierungschefin, Julia Swyrydenko, gemäß
einer Mitteilung vom Montag. Die Ukraine hoffe jedoch, dass Polen,
die Slowakei und Ungarn ihre Importverbote aufheben und die
Gerichtsverfahren sich nicht lang hinziehen werden. Verfahren bei der
WTO sind in der Regel langwierig.

Polens Agrarminister Robert Telus sagte am Rande des Treffens in
Brüssel, er sei von der Entscheidung der EU-Kommission enttäuscht.
Nur die Deutschen hätten sich - glaube er - im Rat klar gegen die
Verbotsentscheidung ausgesprochen.

Aus der CDU gibt es Kritik am Vorgehen des deutschen Ministers: «Es
wäre die Aufgabe von Minister Özdemir gewesen, in diesem brodelnden
und lang bekannten politischen Konflikt mit Warschau vorab zu
verhandeln», sagte Albert Stegemann, ernährungspolitischer Sprecher
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Ähnlich wie Özdemir sieht auch sein spanischer Ministerkollege das
Vorgehen der drei östlichen EU-Staaten. Einseitige Maßnahmen, die den
Zugang zum Binnenmarkt einschränkten, erschienen ihm nicht durch das
Recht gedeckt zu sein, sagte Luis Planas. Spanien hat derzeit den
halbjährlich wechselnden Vorsitz unter den EU-Staaten inne. Auch
Frankreichs Agrarminister Marc Fesneau äußerte Bedauern über die
einseitig ergriffenen Maßnahmen. «Dies ist nicht das erste Mal, und
es stellt den Binnenmarkt und den gemeinsamen Markt zutiefst
infrage», sagte er.

Sowohl Özdemir als auch Planas betonten dabei, es sei Sache der
EU-Kommission, die Frage zu beurteilen, ob sie im Vorgehen der drei
östlichen EU-Staaten einen Rechtsbruch sieht. Eine Sprecherin der
EU-Kommission sagte, die Behörde analysiere die Maßnahmen der drei
EU-Staaten derzeit. Theoretisch kann die Kommission bei einem
Rechtsverstoß ein sogenanntes Vertragsverletzungsverfahren einleiten,
was mit einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof und einer
Geldstrafe enden kann.

Die EU-Kommission betonte stets - auch diesen Montag erneut:
Handelspolitik sei eine ausschließliche EU-Zuständigkeit. «Daher
müssen alle Maßnahmen auf EU-Ebene getroffen werden», so eine
Sprecherin der Kommission. Aber zu diesem Zeitpunkt «können wir
nichts zu den konkreten Verboten sagen». Polens
Landwirtschaftsminister sagte, er habe keine Angst vor einer
möglichen Klage, «weil ich noch einmal sagen möchte, dass das
Interesse der polnischen Landwirte für uns wichtiger ist als
irgendwelche Regelungen, die den polnischen Landwirten schaden.»

Agrar-Kommissar Janusz Wojciechowski betonte nach dem Treffen der
EU-Landwirtschaftsminister, dass es wichtig sei, den Export des
ukrainischen Getreides über EU-Handelswege günstiger zu machen. So
könnten die ukrainischen Produkte attraktiver für den Weltmarkt
werden, was die Wahrscheinlichkeit senkt, dass sie auf Märkten
in Polen oder in Ungarn landen.

Das über Handelswege zwischen EU-Staaten und der Ukraine gehandelte
Getreide ist teurer als über das Schwarze Meer exportierte Getreide.
Dieser Seehandelsweg ist aber wegen des russischen Angriffskrieges
blockiert. Vor allem ärmere Länder - etwa in Afrika oder Asien -
profitieren jedoch von günstigen Lebens- und Futtermitteln aus der
Ukraine. Wojciechowski betonte, das ukrainische Getreide sei
normalerweise in Länder wie Indonesien exportiert worden. Man
exportiere aber «nicht wirklich von der Ukraine über Lettland oder
Polen nach Indonesien».