Viele Migranten kommen nach Europa - Wie geht es weiter? Von Regina Wank, Anne-Beatrice Clasmann und Robert Messer, dpa

18.09.2023 17:00

Die Zahl der Flüchtlinge auf Lampedusa erreicht Rekordhöhen,
Deutschland streitet über Obergrenzen für den Zuzug und eine
gemeinsame EU-Asylpolitik kommt nicht voran. Klingt wie die
Nachrichtenlage 2016 - ist aber aktuell. Warum geht es nicht voran?

Berlin/Brüssel (dpa) - In Deutschland sind im ersten Halbjahr so
viele Asylbewerber angekommen wie seit sieben Jahren nicht. In
Italien sind allein auf der Insel Lampedusa vergangene Woche an einem
Tag rund 5000 irreguläre Migranten mit Booten angekommen. Die
Migrationsfrage hat eine neue Dringlichkeit bekommen. Aber in einem
Europa der offenen Binnengrenzen können einzelne Staaten das Problem
nicht lösen, wie Innenministerin Nancy Faeser (SPD) betont. Doch auf
EU-Ebene geht es mit gemeinsamen Lösungen aktuell kaum voran - wegen
teilweise sehr unterschiedlicher Auffassungen der Mitgliedstaaten.
Wichtige Fragen und Antworten dazu:

Warum kocht die Obergrenze-Debatte in Deutschland jetzt wieder hoch?

Seit einigen Monaten kommen wieder deutlich mehr Asylbewerber nach
Deutschland. In den ersten acht Monaten dieses Jahres haben 204 461
Menschen hierzulande erstmals einen Asylantrag gestellt. Zum
Vergleich: Im gesamten Jahr 2022 waren es nur wenig mehr - nämlich
217 774 Asylerstanträge. Da seit Beginn des russischen Angriffskriegs
gegen die Ukraine auch mehr als eine Million ukrainische
Kriegsflüchtlinge in Deutschland aufgenommen wurden, fehlt es
vielerorts an Wohnraum. Engpässe sind teilweise auch bei der
Gesundheitsversorgung sowie in Schulen und Kitas spürbar. Außerdem
leisten an manchen Orten Anwohner Widerstand gegen die Ansiedlung
einer größeren Zahl von Asylbewerbern. Bayerns Ministerpräsident
Markus Söder (CSU) hatte am Wochenende gesagt, es brauche eine
«Integrationsgrenze» von höchstens 200 000 Migranten pro Jahr. Diese

Zahl orientiere sich daran, was die Kommunen leisten könnten.

Was tut die Bundesregierung?

Faeser hatte im Juni dazu beigetragen, dass sich die EU-Innenminister
auf Kernpunkte einer Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems
(GEAS) einigen. Danach sollten Asylanträge von Migranten, die aus
Herkunftsländern mit einer Anerkennungsquote von weniger als 20
Prozent stammen, bereits an den EU-Außengrenzen innerhalb von zwölf
Wochen geprüft werden. In dieser Zeit will man die Schutzsuchenden
verpflichten, in streng kontrollierten Aufnahmeeinrichtungen zu
bleiben. Wer keine Chance auf Asyl hat, soll umgehend zurückgeschickt
werden. Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums betont am Montag
außerdem: «Die grenzpolizeilichen Maßnahmen haben wir deutlich
intensiviert». Doch zurückschicken beziehungsweise abweisen darf die
Bundespolizei niemanden, der an der Grenze um Asyl bittet - es sei
denn, es besteht ein Einreiseverbot.

Was wollen die Länder und Kommunen?

Zu den wichtigsten Forderungen der Länder gehört eine stärkere
finanzielle Beteiligung des Bundes an den Kosten für die
Unterbringung, Versorgung und Integration von Migranten. Außerdem
heißt es vielerorts, der Bund solle sich stärker um eine Reduzierung
der irregulären Migration nach Deutschland bemühen - auch weil die
Abschiebung abgelehnter Asylbewerber mühselig ist und oft nicht
gelingt.

Wie sind die Aussichten für eine Einigung in der EU?

Die EU-Staaten ringen nicht erst seit der umfangreichen Zuwanderung
in den Jahren 2015 und 2016 um einen gemeinsamen Kurs in der
Asylpolitik. Zuletzt hatte es im Kreis der Innenminister zwar eine
Mehrheit dafür gegeben, die Regeln zu verschärfen. Ob das wirklich so
kommt, ist allerdings unklar, da sie noch mit dem Europaparlament
abgestimmt werden müssen. Und die Zeit läuft ab: Im Juni wird das
EU-Parlament neu gewählt.

Besonders um die Krisenverordnung gibt es Gezerre. Diese sieht etwa
längere Fristen für die Registrierung von Asylgesuchen an den
Außengrenzen vor, außerdem die Möglichkeit für niedrigere Standards

bei Unterbringung und Versorgung. Die Bundesregierung sieht das
Vorhaben eher skeptisch, Polen und Ungarn gehen die Pläne dagegen
nicht weit genug. Die Gespräche auf EU-Ebene dazu sollten eigentlich
im Juli abgeschlossen sein - doch die Bundesregierung enthielt sich.
Bislang ist noch unklar, ob der Streit über die Krisenverordnung
andere Teile der Asylreform blockieren könnte.

Und was ist mit dem freiwilligen Solidaritätsmechanismus?

Dieser Mechanismus, bei dem nur wenige Staaten mitmachen, war
geschaffen worden, um Staaten an den EU-Außengrenzen wie Italien zu
entlasten. Faeser hatte zugesagt, bis zu 3500 Menschen aufzunehmen,
die dann in Deutschland ein Asylverfahren durchlaufen. Bis heute hat
Deutschland mehr als 1800 Menschen über diesen Mechanismus
aufgenommen, davon etwa 1000 Schutzsuchende, die vorher in Italien
waren, etwa 770 Menschen aus Zypern. Über bereits ausgewählte
Asylbewerber hinaus will Deutschland nun vorerst keine Menschen mehr
aus Italien holen, da die Italiener ihrer Verpflichtung zur
Rückübernahme von bei ihnen bereits registrierten Schutzsuchenden
nicht nachkommen. Laut Bundesinnenministerium hat Deutschland seit
Jahresbeginn rund 12 400 Anträge auf sogenannte Dublin-Überstellungen
an Italien gestellt. Übernommen wurden aber demnach nur zehn
Menschen, und zwar ausschließlich Asylbewerber, die freiwillig und
eigenständig nach Italien ausgereist sind.

Was hat das neue Migrationsabkommen mit Tunesien bislang gebracht?

Die EU-Kommission hat ein Migrationsabkommen mit dem
nordafrikanischen Land angekündigt, das eines der Haupttransitländer
für Migranten aus Afrika mit Ziel Europa ist. Hintergrund ist, dass
die allermeisten Flüchtlinge, die derzeit in Lampedusa anlanden, in
Tunesien losfahren. Im Gegenzug für millionenschwere Finanzhilfen
sollen die tunesischen Sicherheitsbehörden stärker gegen Schlepper
und das Ablegen von Booten vorgehen. Die verabredete Einigung ist
noch nicht bindend, erst muss noch ein formelles Abkommen geschlossen
werden. Bislang ist auch noch kein Geld an Tunesien geflossen.

Das geplante Abkommen wird stark kritisiert, aus unterschiedlichen
Gründen: Einerseits haben Nichtregierungsorganisationen und
EU-Abgeordnete Bedenken, dass die Menschenrechte der Flüchtlinge
nicht genügend geschützt werden. Andererseits wird Kritik laut, dass
das Abkommen bislang noch gar nichts gebracht habe, weil die
Flüchtlingszahlen weiter hoch seien. Beobachter vermuten eine Art
Torschlusseffekt: Flüchtlinge und Schlepper bemühen sich
möglicherweise in diesen Wochen, so schnell wie möglich nach Europa
zu gelangen, bevor der Deal greift.

Von der Leyen hat am Wochenende Hilfe angekündigt - was ändert sich
nun?

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versprach am Sonntag
in Lampedusa Hilfe wegen der vielen Flüchtlingsankünfte. Sie stellte
einen Zehn-Punkte-Plan vor: Zum Beispiel soll mit der Hilfe der
EU-Grenzschutzagentur Frontex die Überwachung auf See und aus der
Luft verstärkt werden. Außerdem solle die EU-Asylagentur Italien bei
der Registrierung neuer Flüchtlinge helfen und die anderen EU-Länder
sollen freiwillig Migranten aus Italien aufnehmen. Wie und wann das
passieren soll, ist aber nicht klar. Auch wird von der Leyen viele
der Vorschläge nicht alleine umsetzen können, sondern braucht die
EU-Staaten dazu.

Italien hat nun selbst ein Bündel an härteren Maßnahmen beschlossen,

unter anderem eine Verschärfung der Abschiebehaft. Das Kabinett unter
Ministerpräsidentin Giorgia Meloni entschied am Montag in Rom, die
Höchstdauer der Abschiebehaft um ein halbes Jahr anzuheben. Zudem
wurde das Militär beauftragt, spezielle Abschiebehaftanstalten
einzurichten. Die ultrarechte Ministerpräsidentin sagte nach Angaben
aus ihrer Umgebung in der Sitzung, die Regierung stehe geschlossen
hinter dem Beschluss.