EVP-Chef Weber: «Europa ist de facto in einer neuen Migrationskrise»

19.09.2023 04:30

Vergangene Woche sind auf der italienischen Insel Lampedusa Tausende
Boots-Migranten aus Nordafrika angekommen. Und auch hierzulande
wurden im ersten Halbjahr so viele Asylbewerber registriert wie seit
sieben Jahren nicht. Die Politik streitet über Auswege.

Berlin (dpa) - Angesichts des stark gestiegenen Zuzugs von Migranten
fordert der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber,
ein Umsteuern der Bundesregierung. «Europa ist de facto in einer
neuen Migrationskrise», sagte der CSU-Politiker dem
Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND, Dienstag). Diese könne aber
nicht durch Nichtstun bewältigt werden. Kanzler Olaf Scholz und
Innenministerin Nancy Faeser (beide SPD) müssten ihre
«Verweigerungshaltung» aufgeben. «Neben Humanität braucht es endlic
h
strikte Steuerung und Begrenzung.»

Auch der Generalsekretär der Koalitionspartei FDP, Bijan Djir-Sarai,
machte Druck. «Ich hoffe, dass jeder in dieser Regierung auch
inzwischen verstanden hat, wie gefährlich und wie problematisch diese
Lage ist», sagte er am Montagabend in den ARD-«Tagesthemen». «Die
Migration, die wir derzeit in Deutschland erleben, überfordert die
Menschen in unserem Land.»

Die FDP hatte zuvor in einem Positionspapier ihre Forderung
bekräftigt, Marokko, Tunesien und Algerien zu sogenannten sicheren
Herkunftsstaaten zu erklären, um die Asylverfahren von Staatsbürgern
dieser nordafrikanischen Staaten zu beschleunigen. Dies hatten die
Grünen wiederholt zurückgewiesen. «Das ist jetzt eine Sachdebatte, wo

alle auch ein Stück innerhalb der Koalition über ihren Schatten
springen müssen», sagte Djir-Sarai. «Wir müssen handeln.»

Der Parlamentarische Geschäftsführer der Union im Bundestag, Thorsten
Frei, verwies auf die Nöte bei der Unterbringung. «Viele Städte und
Gemeinden wissen nicht mehr ein noch aus», sagte der CDU-Politiker
der «Rheinischen Post». Er reagierte damit auf Klagen vieler Kommunen
über zu wenig Wohnraum sowie mangelnde Schul- und Kitaplätze.

«Deutschland trägt seit Jahren die Hauptlast in dieser
Migrationskrise», sagte Frei weiter. So seien etwa in Italien bis
Juni rund 62 000 Asylanträge gestellt worden, in Deutschland dagegen
162 000. Italien stand zuletzt im Fokus, weil auf der Insel Lampedusa
vergangene Woche innerhalb weniger Tage Tausende Migranten mit Booten
aus Nordafrika angelandet sind.

Tatsächlich wurden nach Daten der Europäischen Asyl-Agentur im ersten
Halbjahr in Deutschland mit Abstand die meisten Asylanträge gestellt:
Es waren 30 Prozent aller Anträge - und damit fast doppelt so viel
wie in den nächstplatzierten Staaten Spanien (17 Prozent) and
Frankreich (16 Prozent). Dahinter rangierte Österreich, dann Italien.

Im Verhältnis zur Bevölkerung wurden von Januar bis Juni die meisten
Asylanträge pro tausend Einwohner in folgenden Ländern gestellt:
Zypern (4,5), Österreich (2,5), Estland (2), Deutschland (1,9),
Luxemburg (1,8).

Der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager, warnte,
in der Bevölkerung könne die Zustimmung zur Aufnahme von Flüchtlingen

sinken. «Der Bund muss deshalb das Signal senden, dass die
Zuwanderung, so gut es geht, begrenzt wird und in geordneten Bahnen
verläuft. Wichtig ist darüber hinaus, dass die Bundesländer nur
Menschen auf die Kommunen weiterverteilen, die eine Bleibeperspektive
haben», sagte er dem RND.

CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hatte am Montag nach Sitzungen
der Spitzengremien seiner Partei als Sofortmaßnahme gefordert, nach
dem Vorbild der deutsch-österreichischen Grenze auch an den Grenzen
zu Polen, Tschechien und der Schweiz Grenzkontrollen einzuführen.
Dies lehnte SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese als wenig effektiv ab. Nach
seinen Worten binden stationäre Grenzkontrollen vor allem Personal,
«das wir bei der Intensivierung der effektiven Schleierfahndung viel
dringender benötigen», wie er der Mediengruppe Bayern sagte.

Diskutiert wurde zudem weiter über die Forderung von Bayerns
Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) nach einer Obergrenze für
Asylbewerber - konkret 200 000 pro Jahr «als Richtwert». Dazu sagte
Wiebke Judith von Pro Asyl der «Stuttgarter Zeitung» und den
«Stuttgarter Nachrichten» (Dienstag), Söders Vorschlag sei
unrealistisch und menschenrechtswidrig. «Wer eine Obergrenze
einführen will, blendet völlig aus, was passiert, wenn die 200 001.
Person kommt, um Asyl zu beantragen - zum Beispiel jemand, der aus
Syrien geflohen ist und in Deutschland Familie hat. Diese Person hat
ein Recht auf Schutz.»

Die Spitzenkandidatin der FDP bei der Europawahl, Marie-Agnes
Strack-Zimmermann, forderte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der
Leyen (CDU) zum Handeln auf. «Es wird Zeit, dass die
Kommissionspräsidentin endlich reagiert, weil wir das Problem
europäisch lösen müssen», sagte sie dem RND. «Die europäischen

Außengrenzen gehören geschützt.» In den Herkunftsländern müsse

bereits geklärt werden, ob die Frage auf Asyl positiv beschieden
werden könne oder ob ein Schutzgrund nach der Genfer
Flüchtlingskonvention im Einzelfall vorliege. «Wir müssen dagegen
Flüchtlinge, die aus sicheren Herkunftsländern stammen, sofort
zurückschicken. All das muss jetzt und sofort passieren.»