Bundesregierung gerät wegen Migrationspolitik in Brüssel unter Druck Von Ansgar Haase, dpa
26.09.2023 17:28
In Brüssel wächst der Unmut über den Kurs der Bundesregierung in der
Migrationspolitik. Vor einem Innenministertreffen in Brüssel fallen
im Hintergrund deutliche Worte. Werden die deutschen Grünen erneut zu
Zugeständnissen gedrängt?
Brüssel (dpa) - Die Bundesregierung gerät wegen ihrer Ablehnung von
Vorschlägen zur geplanten Reform des EU-Asylsystems zunehmend unter
Druck europäischer Partner. Die Position Berlins sei maßgeblich dafür
verantwortlich, dass notwendige Verhandlungen mit dem Europaparlament
derzeit blockiert seien, sagten mehrere Diplomaten und EU-Beamte der
Deutschen Presse-Agentur vor einem Innenministertreffen an diesem
Donnerstag. Wenn es eine Chance geben solle, die Asylreform noch vor
der Europawahl zu beschließen, müsse sich die Bundesregierung bewegen
und dem Vorschlag für die sogenannte Krisenverordnung zustimmen.
Unter Druck geraten damit vor allem die deutschen Grünen. Sie gelten
als entscheidend für die bislang unnachgiebige Positionierung der
Bundesregierung.
In dem Streit geht es konkret darum, dass die Regierung aus SPD,
Grünen und FDP im Juli einen Vorschlag der spanischen
EU-Ratspräsidentschaft für die Krisenverordnung nicht unterstützen
wollte. Die EU-Staaten konnten sich deshalb nicht für Verhandlungen
mit dem Europaparlament positionieren. Berlin begründete dies in
Brüssel insbesondere damit, dass EU-Staaten über die Verordnung bei
einem besonders starken Zustrom von Migranten die Möglichkeit
bekämen, die Schutzstandards für diese Menschen in inakzeptabler
Weise abzusenken.
So soll etwa in Krisensituationen der Zeitraum verlängert werden
können, in dem Menschen unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten
werden können. Zudem könnte der Kreis der Menschen vergrößert werde
n,
der für die geplanten strengen Grenzverfahren infrage kommt.
Parlament macht Druck mit Blockade
Aus Ärger über den Stillstand kündigte das Europaparlament in der
vergangenen Woche an, andere Teile der Verhandlungen über die
geplante Asylreform bis auf Weiteres zu blockieren. Brisant sind die
Verzögerungen vor allem wegen der nahenden Europawahl im Juni 2024.
Projekte, die bis dahin nicht mit den Regierungen der Mitgliedstaaten
ausgehandelt sind, könnten anschließend wieder infrage gestellt
werden und sich lange verzögern.
Im Fall der geplanten Reform des Asylsystems wäre dies ein besonders
großer Rückschlag. An dem Projekt wird bereits seit Jahren
gearbeitet. Es soll auch dazu beitragen, die illegale Migration zu
begrenzen und dürfte deswegen auch bei anstehenden Wahlen in den
Mitgliedstaaten und der Europawahl eine Rolle spielen. Vor allem
rechte Parteien wie die AfD werfen der EU seit langem Versagen im
Kampf gegen illegale Migration vor.
Platzt das ganze Asyl-Paket?
Eine schnelle Einigung in dem Streit ist nicht in Sicht. Ein Diplomat
sagte der dpa, südliche EU-Staaten hätten andere Teile der geplanten
Reform nur akzeptiert, weil sie sich sicher gewesen seien, im
Gegenzug in Krisensituationen mehr Flexibilität zu bekommen. Wenn
dies nun in Frage gestellt werde, könne das ganze Paket platzen.
Zu diesem gehört neben den Regeln für Krisensituationen, dass
Erstaufnahmestaaten Asylanträge von Migranten aus Herkunftsländern
mit einer Anerkennungsquote von weniger als 20 Prozent in Zukunft
innerhalb von zwölf Wochen prüfen sollen. In dieser Zeit will man die
Schutzsuchenden verpflichten, in streng kontrollierten
Aufnahmeeinrichtungen zu bleiben. Wer keine Chance auf Asyl hat, soll
umgehend zurückgeschickt werden.
Äußerungen von Baerbock sorgen für Diskussionen
Unverständnis über die deutsche Positionierung gibt es insbesondere,
weil die Standardregeln dem aktuellen Vorschlag zufolge gar nicht
automatisch, sondern erst nach Zustimmung des Rates der
Mitgliedstaaten und unter strenger Aufsicht der EU-Kommission
aufgeweicht werden dürften. Es blieben demnach auch in einer
Krisensituation noch etliche Kontrollmöglichkeiten, um Missbrauch zu
verhindern.
Als mögliches politisches Manöver vor den Landtagswahlen in Bayern
und Hessen wird deswegen auch gesehen, dass die deutsche
Außenministerin Annalena Baerbock die Haltung der Bundesregierung am
Wochenende überraschenderweise nicht mehr mit Menschenrechtsbedenken,
sondern mit der Gefahr eines noch größeren Zustroms von Migranten
nach Deutschland erklärte.
So hatte die Grünen-Politikerin am Wochenende ohne Erklärungen im
Kurznachrichtendienst X geschrieben: «Statt geordneter Verfahren
würde insbesondere das große Ermessen, dass die aktuelle
Krisenverordnung für den Krisenfall einräumt, de facto wieder Anreize
für eine Weiterleitung großer Zahlen unregistrierter Flüchtlinge nach
Deutschland setzen.»
Zudem kritisierte sie, eine zusätzliche Krisenverordnung
«nachzuschieben», drohe neue geordnete Verfahren «durch die
Hintertür» kaputt zu machen - obwohl der grundlegende Vorschlag der
EU-Kommission dazu bereits seit September 2020 auf dem Tisch liegt.
Qualifizierte Mehrheit ohne Deutschland?
Mit Spannung wird nun erwartet, ob der Unmut über die Bundesregierung
beim Innenministertreffen auch vor laufenden Kameras geäußert wird
und ob dies dann möglicherweise zu neuen Diskussionen innerhalb der
Koalition führt. Dagegen spricht, dass die Grünen schon mit den im
Juni vereinbarten Plänen für eine Verschärfung der regulären
Asylverfahren Dinge akzeptierten, die sie eigentlich nicht
akzeptieren wollten und es im Anschluss heftige parteiinterne
Diskussionen über die Zustimmung gab.
Für Deutschland wird zu den EU-Beratungen in Brüssel
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erwartet, die derzeit auch
Spitzenkandidatin für die hessische SPD bei der Landtagswahl am 8.
Oktober ist. Sie hat sich öffentlich bislang nicht zu möglichen
Kompromissen geäußert.
Ein Sprecher des Bundesministeriums teilte am Dienstag auf Anfrage
mit, über den Verordnungsvorschlag werde «auf EU-Ebene und innerhalb
der Bundesregierung» weiter beraten. Die Krisenverordnung habe das
Ziel, für Ausnahmesituationen einen gemeinsamen Rechtsrahmen für das
Handeln der Mitgliedstaaten zu schaffen, der sowohl humanitäre
Aufnahmebedingungen als auch den Zugang zu Schutz gewährleiste.
Der stellvertretende CSU-Vorsitzende und Chef der
christdemokratischen europäischen Parteienfamilie EVP, Manfred Weber,
kritisierte den Kurs Berlins als hektisch und chaotisch. «Wieder
einmal verwirrt die deutsche Ampel-Regierung die EU-Partner mit ihrer
Vielstimmigkeit, jetzt auch in der Migrationspolitik», kommentierte
er.
Der parlamentarische Geschäftsführer der Union im Bundestag, Thorsten
Frei, sagte der «Berliner Zeitung»: «Obwohl sich die Migrationskrise
letztlich nur europaweit lösen lässt, steht die Bundesregierung einer
Einigung in Brüssel im Weg.» Die Krisenverordnung stoppen zu wollen,
sei «nicht akzeptabel».
Die vielleicht einzige gesichtswahrende Lösung für die
Bundesregierung wäre es, wenn die spanische EU-Ratspräsidentschaft
doch noch ohne Deutschland die notwendige qualifizierte Mehrheit für
die Krisenverordnung organisieren könnte. Dass dies gelingt, galt
zuletzt allerdings als äußerst unwahrscheinlich, weil die anderen
Gegner den spanischen Vorschlag für zu schwach halten und sich noch
mehr Freiheiten bei einem Massenzustrom von Migranten wünschen
würden. Dazu gehören Polen, Ungarn, Österreich und Tschechien.