«David gegen Goliath»: Jugendliche verklagen Staaten auf Klimaschutz Von Emilio Rappold und Regina Wank, dpa

27.09.2023 13:01

So etwas hat es noch nie gegeben: Im Kampf um eine bessere Zukunft
verklagen sechs Kinder und Jugendliche gleich die Regierungen von 32
Staaten in Europa. Sie hoffen auf eine «lebenswerte Zukunft». Wie
stehen ihre Chancen in der ungleichen Auseinandersetzung?

Straßburg/Lissabon (dpa) - Sechs Kinder und Jugendliche wollen die
Regierungen von Deutschland und 31 weiteren Staaten in Europa dazu
zwingen, in Zukunft viel mehr für den Schutz der Umwelt zu tun. Die
von den jungen Portugiesen vor drei Jahren eingereichte Klimaklage
wurde am Mittwoch in Straßburg vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR) verhandelt. Die Menschenrechtsorganisation
Amnesty International sprach von einer «bahnbrechenden» Initiative
der jungen Menschen im Alter zwischen elf und 24 Jahren.

Neben dem Alter der Kläger sind die Größe des Prozesses und die Zahl

der angeklagten Länder ungewöhnlich. Aufseiten der gerügten
Regierungen waren mehr als 80 Anwälte im Gerichtssaal anwesend. Die
Kläger wurden von lediglich sechs Anwälten vertreten. «Das ist
wirklich ein Fall von David gegen Goliath», sagte wenige Tage vor der
Anhörung Gearóid Ó Cuinn, Direktor der Nichtregierungsorganisation
Global Legal Action Network(GLAN), die die Portugiesen bei der
Initiative unterstützt und berät. «Es gibt keine Präzedenzfälle,

weder hinsichtlich des Ausmaßes noch bezüglich der Folgen.»

Die Herausforderung ist riesig, aber der Preis, der winkt, ist sehr
verlockend: Wenn die Kläger und Klägerinnen Recht bekommen, könnte
der EGMR die Regierungen der EU-Mitgliedsländer und der
mitangeklagten Staaten Norwegen, Russland, Türkei, Schweiz und
Großbritannien auffordern, ihre Treibhausgasemissionen zu verringern
und strengere Klimaziele zu beschließen und einzuhalten. GLAN-Anwalt
Gerry Liston spricht von einem möglichen «Gamechanger».

Bei der Anhörung wiesen die Anwälte der europäischen Regierungen vor

den 17 Richtern und den zum Teil sichtlich nervösen Jugendlichen in
der zweiten Zuschauerreihe die Klage zurück. Sie basiere auf «bloße
Annahmen» und «leere Hypothesen», hieß es. «Die bisher beobachtet
en
Auswirkungen des Klimawandels scheinen sich nicht direkt auf das
Leben oder die Gesundheit der Menschen auszuwirken», lautet zum
Beispiel die offizielle Position Griechenlands. Der Vertreter
Portugals meinte, der behauptete Schaden sei «zu abstrakt».

Eine Anwältin der Gegenseite wies diese Ausführungen ironisch zurück:

«Das Problem ist zu groß, es ist zu kompliziert, es ist zu global,
sagen sie, daher muss der Gerichtshof wegschauen.» Eine Ablehnung der
Klage würde das Ende des wirksamen Schutzes der Menschenrechte in
Europa bedeuten, wie er vor 70 Jahren konzipiert wurde, warnte sie.

Mit einem Urteil ist zwar erst nächstes Jahr zu rechnen. Einer der
Kläger, Martim Duarte Agostinho, meint aber, man dürfe keine Zeit
verlieren. «Ohne dringende Maßnahmen zur Reduzierung der Emissionen
wird mein Wohnort bald zu einem unerträglichen Ofen werden», sagte
der 20-Jährige aus Leiria im Zentrum Portugals vor der Anhörung.
Martims Schwester Mariana hatte der Deutschen Presse-Agentur zu
Beginn der Initiative im Jahr 2020 als Achtjährige gesagt, die
Tatenlosigkeit der Erwachsenen mache sie wütend und traurig zugleich.
«Ich habe große Angst davor, auf einem kranken Planeten leben zu
müssen.»

Seit diesen Aussagen von Mariana gab es nur wenige Besserungen, aber
mehrere Hiobsbotschaften. Der Juli 2023 war etwa nach Daten des
EU-Klimawandeldienstes Copernicus der heißeste bisher gemessene
Monat. Martim sagte: «Unsere Botschaft an die Richter wird einfach
sein: Bitte sorgen Sie dafür, dass die Regierungen alles Nötige tun,
damit wir eine lebenswerte Zukunft haben.»

Die Leiterin der Abteilung für strategische Rechtsstreitigkeiten bei
Amnesty International, Mandi Mudarikwa, sagte, dass die jungen Kläger
und Klägerinnen wie so viele andere Menschen auf der Welt auch die
gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels bereits unmittelbar zu
spüren bekämen. Die zunehmenden Hitzeextreme schränkten ihre
Möglichkeiten ein, sich im Freien aufzuhalten, Sport zu treiben, zu
schlafen und sich richtig zu konzentrieren.

Anlass für die Klage von Mariana und Martin, für ihre Schwester
Claudia (24) sowie für Catarina Mota (23) und die Geschwister Sofia
(18) und André Oliveira (15) waren die verheerenden Brände von 2017
in ihrem Heimatland, bei denen mehr als 100 Menschen starben und
riesige Waldgebiete zerstört wurden. «Da ist bei mir der Groschen
gefallen (...) Ich habe gemerkt, wie dringend man handeln muss, um
den Klimawandel zu stoppen», sagte Claudia vor einiger Zeit der dpa.

Wie die Chancen für die Kläger stehen, ist schwierig zu
prognostizieren, da umweltrechtliche Fragen bisher keine große Rolle
vor dem EGMR gespielt haben. Grundsätzlich gewährt die Europäische
Menschenrechtskonvention kein Recht auf eine saubere Umwelt. Bisher
haben sich Klagen daher vor allem darauf gestützt, dass durch
Umweltverschmutzung andere Menschenrechte gefährdet sind, etwa das
Recht auf Leben. Oft ging es dabei zum Beispiel darum, dass Menschen
von Lärm oder Luftverschmutzung betroffen waren. Die Auswirkungen des
Klimawandels generell wurden dagegen bislang kaum behandelt.

Das könnte sich nun ändern. Denn die Portugiesen sind nicht die
einzigen, die gerichtlich mehr Klimaschutz einfordern. Dieses Jahr
wird beim EGMR auch über den Fall der sogenannten Klimaseniorinnen
verhandelt, ein von Greenpeace unterstützter Zusammenschluss von
Schweizer Rentnerinnen, die am Mittwoch in Straßburg waren, um die
Portugiesen moralisch zu unterstützen. Auch ein Bürgermeister in
Frankreich klagt derzeit auf die Einhaltung der Pariser Klimaziele.

Klagen für Klimaschutz liegen im Trend. Laut dem Grantham Institute
der London School of Economics wurden bislang weltweit über 2000
erhoben, ein Viertel davon zwischen 2020 und 2022. Bald könnte es
mehrere spannende Entwicklungen geben: Der Inselstaat Vanuatu im
Südpazifik schaltet den Internationalen Strafgerichtshof ein. Auch in
den USA, in Brasilien und in Schweden wurden Klagen wegen mangelnden
Klimaschutz erhoben.