Zehn Jahre nach dem Flüchtlingsdrama: Ernüchterung auf Lampedusa Von Robert Messer, dpa
01.10.2023 11:30
Mehr als 360 Migranten ertranken 2013 bei einem Bootsunglück vor
Lampedusa. Zehn Jahre später wagen weiter zahlreiche Menschen die
Überfahrt von Afrika nach Europa. Das Flüchtlingscamp war gerade erst
wieder völlig überfüllt. Auf der Insel herrscht Ernüchterung.
Lampedusa (dpa) - Vor zehn Jahren blickte die Welt nach Lampedusa: Am
3. Oktober 2013 wurde die kleine Mittelmeerinsel von einem ihrer
schlimmsten Bootsunglücke heimgesucht. Mehr als 360 Menschen kamen
bei dem Schiffbruch eines Migrantenbootes auf dem Weg von Afrika nach
Europa nachweislich ums Leben. Zahlreiche Särge füllten daraufhin den
Hangar des Flughafens von Lampedusa - zwischen den langen braunen
lösten vor allem die kleinen weißen Kindersärge Bestürzung aus.
Das völlig überfüllte Boot mit rund 500 afrikanischen Migranten hatte
vor der Nachbarinsel Isola dei Conigli Feuer gefangen. Einige
Menschen sollen auf dem Schiff eine Decke angezündet haben, um so ein
Fischerboot auf sich aufmerksam zu machen. Das Feuer breitete sich
rasant aus, das Schiff kenterte.
Gleich nach der Katastrophe waren konkrete Lösungen gefordert worden,
um weitere derartige Unglücke zu verhindern. Geändert hat sich laut
Experten allerdings bis heute nicht allzu viel. Auch angesichts der
aktuellen Lage - zuletzt kamen erneut Tausende Bootsflüchtlinge auf
Lampedusa an - sind zehn Jahre später viele Menschen auf der Insel
desillusioniert.
Direkt nach dem Unglück vor zehn Jahren forderten Politiker und
Verantwortliche Lösungen. «So eine Katastrophe darf es nicht wieder
geben», sagte der damalige EU-Kommissionspräsident José Manuel
Barroso bei seinem Besuch auf der Insel. Der Notstand Lampedusas sei
ein europäischer, Europa dürfe sich nicht abwenden. Die Hoffnungen
waren groß. Doch schon kurz nach Barrosos Besuch kam es am 11.
Oktober zu noch einem Schiffbruch mit vielen Toten.
Eine direkte Antwort auf das Unglück von 2013 war die Operation «Mare
Nostrum», an der ausschließlich die italienische Marine und
Küstenwache beteiligt waren. Ziel der Operation war die Seenotrettung
von Menschen, die auf Booten das Mittelmeer in Richtung Italien
überqueren. Seit Ende 2013 retteten die Einsatzkräfte mit zwei
Dutzend Schiffen rund 150 000 Menschen.
Nach knapp einem Jahr wurde die Operation allerdings eingestellt, und
private Helfer sprangen ein. Auch heute fordern zivile Seenotretter
eine ähnlich große Operation zur Rettung auf hoher See. Angesichts
zuletzt stark gestiegener Zahlen an Bootsmigranten will Rom diesmal
aber einen breiteren Ansatz: Die Regierung unter der ultrarechten
Ministerpräsidentin Giorgia Meloni verlangt gemeinsame EU-Einsätze,
bei denen wenn nötig auch die Marine eingreifen soll - nicht in
erster Linie, um zu retten, sondern um Migranten davon abzuhalten,
überhaupt nach Italien zu kommen.
Trotz der großen Ankündigungen in der Vergangenheit kam es seit 2013
immer wieder zu Schiffsunglücken. Seit 2014 werden nach offiziellen
UN-Zahlen mehr als 28 100 Menschen im Mittelmeer vermisst, die
vermutlich ertrunken sind. Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR
zufolge sind 2023 bereits etwa 186 000 Menschen über das Mittelmeer
in Europa angekommen. Von diesen seien mit 130 000 die meisten in
Italien registriert worden. Wegen ihrer Nähe zur nordafrikanischen
Küste gehört Lampedusa zu den Brennpunkten der Migration nach Europa.
«Zehn Jahre nach dem schrecklichen Schiffbruch vor Lampedusa ist die
humanitäre Krise nach wie vor ungebrochen und das Mittelmeer bleibt
für Menschen auf der Flucht tödlich», so die Europa-Direktorin der
Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung (IFRC), Brigitte
Bischoff Ebbesen.
Vielen auf Lampedusa kommen daher die Worte der derzeitigen
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bei ihrem kürzlichen Besuch
auf der Insel angesichts der aktuellen Migrationskrise bekannt vor.
Denn nach zehn Jahren steht Lampedusa erneut im Fokus. Mitte
September erreichten mehrere Tausend Bootsmigranten Lampedusa. An nur
einem Tag kamen mehr als 5000 Menschen auf der Insel mit gut 6000
Einwohnern an - so viele wie noch nie innerhalb von 24 Stunden. Das
Erstaufnahmelager war zeitweise maßlos überfüllt.
Bei ihrem Besuch mit Meloni stellte von der Leyen einen
10-Punkte-Plan vor, um die irreguläre Migration nach Europa
einzudämmen. Für die Bewohner Lampedusas und Experten sind die Worte
der Spitzenpolitiker ein Déjà-vu. Die Forderungen sind ihnen nicht
neu.
Nach den Besuchen aus Brüssel sollte für Lampedusa immer alles anders
und besser werden. «Wir erinnern uns gut an Barrosos berühmte Worte»,
sagte Vito Fiorino, ein Eisdielenbesitzer auf Lampedusa, der nach dem
Unglück vor zehn Jahren 47 Menschen aus dem Meer rettete,
italienischen Medien. «Er sagte: «Das sollte nie wieder passieren».
Aber in zehn Jahren hat sich nichts geändert - die Tragödien
ereigneten sich immer wieder, die Menschen kamen wieder.»
Die Einreise in Europa von Flüchtlingen und Migranten sei heute nicht
sicherer als vor zehn Jahren, im Gegenteil, sagt auch Christopher
Hein, Professor für den Bereich Migration und Asyl an der
Luiss-Universität in Rom. «Möglichkeiten der legalen und geschützte
n
Einreise sind nach wie vor äußerst gering.» Von der Leyens
10-Punkte-Plan ändere nichts an der Situation. Hein plädiert für eine
Erweiterung der Wege zur legalen Einreise. Konkrete Lösungen seien
immer wieder angekündigt, aber nicht in praktisches Handeln umgesetzt
worden.
Den EU-Staaten ist es bis heute nicht gelungen, eine umfassende
Reform des europäischen Asylsystems endgültig zu verabschieden. Seit
Lampedusa wieder einmal im Fokus des Weltgeschehens steht, werden von
italienischen und europäischen Politikern erneut zahlreiche
Vorschläge gemacht, um das Sterben im Mittelmeer und das Leid auf der
kleinen Insel zu stoppen. Auf die Hoffnung vor einigen Jahren folgt
jedoch heute Enttäuschung. Zu oft haben Menschen wie Vito Fiorino
schon die gleichen Worte wieder und wieder gehört. «Geändert hat sich
hier trotz aller schönen Worten nie etwas.»