Zu früh gefreut? Geplante EU-Asylreform sorgt weiter für Ärger Von Jörg Ratzsch und Ansgar Haase, dpa
29.09.2023 15:50
Im Ringen um die Reform der EU-Asylregeln dringt Italien auf weitere
Zugeständnisse Deutschlands. Muss sich die Bundesregierung noch
einmal bewegen? Neue Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR
befeuern die Diskussionen.
Berlin/Brüssel (dpa) - Kann die EU-Asylreform nach dem deutschen Ja
zu einem umstrittenen Krisenmechanismus endlich zu Ende verhandelt
werden? Die Ereignisse der vergangenen Tage werfen in Brüssel und
Berlin zahlreiche Fragen auf. Wie es weitergeht, wird allerdings
nicht nur in diesen beiden Städten entschieden. Ein Überblick:
Wie ist nun der Stand bei der EU-Asylreform nach dem deutschen Ja zur
sogenannten Krisenverordnung für den Fall der Ankunft außerordentlich
vieler Migranten?
Die Bundesregierung hatte erwartet, dass sie mit Zugeständnissen im
Streit um die Krisenverordnung den Weg für wichtige Verhandlungen mit
dem Europaparlament ebnen kann. Spätestens seit diesem Freitag ist
allerdings klar, dass die Hoffnung verfrüht war. Nach Angaben von
Diplomaten gehen insbesondere Italien die deutschen Zugeständnisse
nicht weit genug. Rom stört sich außerdem an der Finanzierung ziviler
Seenotrettungsprojekte durch Deutschland.
Grundsätzlich sehen die Pläne für die EU-Asylreform zahlreiche
Ergänzungen und Verschärfungen vor, um unerwünschte Migration zu
begrenzen. Geplant ist insbesondere ein deutlich härterer Umgang mit
Menschen aus Ländern, die als relativ sicher gelten. Sie sollen
künftig nach einem Grenzübertritt unter haftähnlichen Bedingungen in
streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen kommen. Dort würde dann im
Normalfall innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden, ob der
Antragsteller Chancen auf Asyl hat. Wenn nicht, soll er umgehend
zurückgeschickt werden.
Zudem soll dafür gesorgt werden, dass stark belasteten Staaten wie
Italien und Griechenland künftig ein Teil der Asylsuchenden
abgenommen wird. Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen,
würden zu Ausgleichszahlungen gezwungen werden.
Wenn Italien nicht zustimmt - warum hat Bundesinnenministerin Nancy
Faeser (SPD) dann am Donnerstag nach einem EU-Treffen eine
«politische Einigung» verkündet?
Faeser ist derzeit nicht nur Innenministerin, sondern auch
Spitzenkandidatin für die hessische SPD bei der Landtagswahl am 8.
Oktober. Möglich ist, dass sie wenige Tage vor der Wahl einen
politischen Erfolg präsentieren wollte. Denkbar ist allerdings auch,
dass sie die die Lage und die Bedenken Italiens nicht richtig
eingeschätzt hat. Faeser muss nun hoffen, dass in den nächsten Tagen
einige Einigung erzielt werden kann.
Druck machen auch die Entwicklungen an den EU-Außengrenzen. Die Zahl
der von der EU erfassten Asylanträge stieg zuletzt auf den höchsten
Halbjahresstand seit der Flüchtlingskrise 2015/2016. Bis zum 24.
September dieses Jahres sind nach Angaben des
UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR allein 186 000 Menschen über das
Mittelmeer nach Europa gekommen. Im gesamten vergangenen Jahr waren
es den UNHCR-Daten zufolge etwa 150 000.
Stimmt es, dass die Bundesregierung noch weitreichende Änderungen an
den Plänen für die Krisenverordnung herausgehandelt hat?
EU-Beamte, die in der Regel einen sehr nüchternen Blick auf die
Fakten haben, beantworten diese Frage mit einem klaren Nein. Wer in
den neuen Text schaut, sieht, dass zum Beispiel eine Regel gestrichen
wurde, die es EU-Ländern erlaubt hätte, bei einem starken Zustrom von
Menschen zeitweise von EU-Standards für materielle
Unterstützungsleistungen und den Zugang zu medizinischer Versorgung
abzuweichen. Zudem sollen die Anträge auf Schutz von Minderjährigen
und ihren Familienmitgliedern auch in Krisensituationen bevorzugt
geprüft werden. Vorgesehen sind auch stärkere Informations- und
Rechtfertigungspflichten für Länder, die die Verordnung in Anspruch
nehmen wollen.
Substanziell sind diese Änderungen unter dem Strich allerdings nicht.
So wäre auch mit dem ursprünglichen Text festgelegt worden, dass die
Mitgliedstaaten auch in Krisensituationen die Grundbedürfnisse der
Antragsteller in Bereichen wie Ernährung, Kleidung, angemessene
medizinische Versorgung und Unterkünfte decken müssen.
Die Grünen hatten die Zustimmung der Regierung aus Sorge vor einer
inakzeptablen Absenkung von Schutzstandards zuletzt wochenlang
blockiert. Warum haben sie nun dennoch zugestimmt?
Führende Grünen-Politiker wie Außenministerin Annalena Baerbock
begründeten den Kurswechsel am Donnerstag mit den noch erfolgten
Änderungen. Selbst grüne Bundestagsabgeordnete gehen allerdings davon
aus, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Mittwoch informell von
seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht hat und angeordnet hat,
den Widerstand gegen die Krisenverordnung aufzugeben. So kritisierte
Julian Pahlke, «die Entscheidung des Bundeskanzlers der Verordnung um
jeden Preis zuzustimmen», habe Verbesserungen nur noch schwieriger
gemacht.
Was bedeutet das für die Grünen?
Sie stecken bei dem Thema in einem Dilemma. An der Basis gab es von
Anfang an grundsätzlichen Widerstand gegen den geplanten schärferen
Asylkurs, über den in der EU verhandelt wird. «Die Ampel darf diese
Abschottungspolitik nicht mitmachen», schrieb jüngst etwa der
Bundessprecher der Grünen Jugend Timon Dzienus bei X (früher Twitter)
im Zusammenhang mit den Verhandlungen in Brüssel. Er warnte vor «noch
mehr Chaos, Leid und Elend an den Außengrenzen, weil Menschen
entrechtet werden». Spitzenpolitiker der Grünen sind als Teil der
Regierung aber gezwungen Zugeständnisse zu machen - eine
Belastungsprobe für die Partei.
Gilt das auch für die Ampel-Koalition insgesamt?
Auch für die. Wie bei anderen Themen - siehe Kindergrundsicherung
oder Heizungsgesetz - verläuft die Trennlinie allerdings vor allem
zwischen Grünen und FDP. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai hatte
den Grünen beim Thema Migration zuletzt sogar vorgeworfen, ein
«Sicherheitsrisiko für das Land» zu sein und durch «realitätsfern
e
Positionen» konsequentes Regierungshandeln zu erschweren. Dem
«Tagesspiegel» sagte er nun: «Ich begrüße es, dass der Bundeska
nzler
an die Adresse des grünen Koalitionspartners gerichtet nun
klargemacht hat, dass die Asylwende kommen muss.»
Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung beim Thema?
Laut aktuellem ARD-«Deutschlandtrend» ist die Unterstützung für ein
e
Begrenzung der Flüchtlingszahlen gewachsen, ebenso die allgemeine
Skepsis gegenüber Zuwanderung. 64 Prozent der Befragten sprechen sich
demnach dafür aus, dass Deutschland weniger Flüchtlinge aufnehmen
sollte, 12 Punkte mehr als im Mai. Die Frage, ob Deutschland durch
Zuwanderung eher Vorteile oder eher Nachteile hat, beantworteten 64
Prozent mit «eher Nachteile», im Mai gaben das noch 54 Prozent an,
wie die Erhebung von infratest dimap ergab.