Ohne Wagenknecht, mit Rackete: Die Linke versucht den Neustart Von Verena Schmitt-Roschmann und Ulf Vogler, dpa

19.11.2023 15:33

Aus Sicht der Parteispitze lief der Linken-Parteitag in Augsburg rund
- und besser als erwartet. Sie wähnt die Partei auf dem Weg zum
Comeback. Aber es warten hohe Hürden.

Augsburg (dpa) - Linken-Chef Martin Schirdewan gab sich sehr
zufrieden am Sonntagmorgen: Programm zur Europawahl verabschiedet,
Kandidatenteam aufgestellt, Kampagne zur Erneuerung der Partei
gestartet - und fast niemand, der beim Parteitag der Linken in
Augsburg noch den Namen Sahra Wagenknecht erwähnt hätte. «Das
interessiert hier einfach niemanden mehr», sagte Schirdewan. Dann
eilte der 48-Jährige durch die Messehalle zur nächsten Live-Schalte.

Knapp vier Wochen nach dem Bruch mit ihrer früheren Ikone Wagenknecht
und kurz nach dem Beschluss zur Auflösung ihrer Bundestagsfraktion
hat die Linke also ein Lebenszeichen von der Intensivstation gefunkt.
Schirdewan gab sich im Phoenix-Interview sogar sicher: «Wir werden
gestärkt aus diesem Prozess hervorgehen.»

Die mehr als 400 Delegierten wollten das nur zu gerne glauben. Sie
jubelten ihren Europa-Kandidaten zu, darunter neben Schirdewan selbst
die ehemalige Seenotretterin Carola Rackete und der Mainzer Arzt
Gerhard Trabert. Die Genossinnen und Genossen bestätigten sich
gegenseitig, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte sei
und die Linke mehr gebraucht werde denn je.

Ob und wie sich die Partei tatsächlich berappelt, ist jedoch
ungewiss. Der Berliner Politikwissenschaftler Klaus Schroeder ließ
sich von der Augsburger Aufbruchstimmung nicht beeindrucken. «Die
Partei trudelt ihrem Ende entgegen, sie wird bald Geschichte sein»,
prophezeite Schroeder im Deutschlandfunk.

Was für ein Comeback der Linken spricht

Die Parteispitze wirbt gezielt um junge Linke in der Klimabewegung
oder der Flüchtlingshilfe und um Menschen, die von SPD und Grünen
enttäuscht sind. Dafür sehen die Vorsitzenden Schirdewan und Janine
Wissler nach der Abspaltung von Wagenknecht nun freie Bahn. Eine
Rolle spielt dabei: Bei der Europawahl im Juni 2024 gilt erstmals das
Wahlalter 16.

Die ehemalige Seenotretterin Rackete sagte am Rande des Parteitags,
das Konzept könne aufgehen, sie spüre bereits viel Interesse in den
Bewegungen. Die 35-Jährige, die mit Schirdewan im Spitzenduo zur
Europawahl antritt, ist selbst Symbolfigur dieses Plans: Sie ist
nicht Mitglied der Linken, die Kapitänin und Ökologin steht für
Klima- und Flüchtlingsaktivismus, und wird in der Partei bewundert
als authentische Person jenseits des Politikbetriebs.

Vielleicht noch mehr Euphorie stiftete in Augsburg der 67-jährige
Trabert, ebenfalls parteilos, der «Arzt der Armen», der schon für die

Linke für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte. Mit einer
umjubelten Rede gegen Stigmatisierung angeblich «sozial Schwacher»
schaffte der Trabert bei der Wahl zum Europa-Listenplatz vier das
beste Ergebnis des Parteitags. Die Linke stellte insgesamt 20
Kandidatinnen und Kandidaten auf, obwohl 2019 bei einem Stimmanteil
von 5,5 Prozent nur fünf Mandate drin waren.

Alles zusammen - soziales Gewissen, linker Idealismus und der
Verdruss über die Ampel-Parteien - sollte doch für fünf Prozent
Stimmanteil reichen, so ist wohl die Erwartung der Linken-Spitze.
Gelingt das bei der Europawahl, könnte es bei den Landtagswahlen 2024
und der nächsten Bundestagswahl weitergehen - und der Plan 2025 für
ein Comeback wäre aufgegangen.

Mut machen sich Wissler und Schirdewan damit, dass seit Wagenknechts
Ausstieg 700 Menschen in die Partei eingetreten seien und viel
weniger ausgetreten. «Lasst uns die Ärmel hochkrempeln, den Rücken
gerade machen, lasst uns unseren Mut zusammennehmen und gegen alle
Widrigkeiten für eine solidarische Gesellschaft kämpfen», rief
Wissler in ihrer Rede beim Parteitag.

Was der Linken in die Quere kommen könnte

Die von Wissler erwähnten «Widrigkeiten» sind allerdings vielfältig
.
Zum einen ziehen Wagenknecht und deren Pläne für eine neue Partei
viel Aufmerksamkeit ab. Die Linke dümpelt bundesweit seit Monaten bei
Umfragewerten von 4 bis 5 Prozent, während die noch gar nicht
gegründete Wagenknecht Partei bei - obgleich noch nicht sehr
belastbaren - 12 bis 14 Prozent liegt.

Wagenknecht trifft mit ihrer «Kleine-Leute»-Rhetorik, mit einer
strikten Linie gegen Migration und aufgeweichtem Klimaschutz offenbar
eher den Zeitgeist als die Linke mit ihrem Plädoyer für ein
uneingeschränktes Asylrecht, für Feminismus, Klassenkampf und
Sozialismus. Die Linke beteuert zwar ihren Einsatz für Arme und
Arbeitnehmer und profilierte sich in Augsburg zum Beispiel mit der
Forderung nach 15 Euro gesetzlichem Mindestlohn. Viele traditionelle
Wähler, auch in Ostdeutschland, scheinen trotzdem skeptisch.

Ganz praktisch dürfte nicht nur die angekündigte Auflösung der
Linksfraktion im Bundestag der Partei politische Schlagkraft nehmen.
Es lauert noch eine andere Tücke: Am 19. Dezember verkündet das
Bundesverfassungsgericht sein Urteil zur Wiederholung der
Bundestagswahl 2021 in Berlin. Das Schreckensszenario für die Linke:
Die Pannenwahl von damals muss komplett wiederholt werden und die
Partei verliert eines ihrer beiden Berliner Direktmandate.

Die Linke hatte 2021 die Fünf-Prozent-Hürde verfehlt und war nur über

eine Sonderklausel wegen des Gewinns von drei Direktmandaten mit 39
Abgeordneten ins Parlament gekommen. Ist ein Direktmandat futsch,
verlieren nach gängiger Rechtsauffassung auch die 36 Abgeordneten
ihren Sitz, die damals von der Grundmandatsklausel profitierten.
Darunter ist übrigens auch Sahra Wagenknecht.