Aufregung um EU-Atombombe: Alles nur eine Geisterdebatte? Ansgar Haase, Carsten Hoffmann und Michael Fischer, dpa

14.02.2024 17:07

Die einen halten es für eine gefährliche Geisterdebatte, die anderen
finden die Diskussion zwingend notwendig: Braucht Europa einen
eigenen nuklearen Schutz vor Putins Atomraketen?

Berlin (dpa) - Donald Trump hat weder ein politisches Amt, noch ist
sicher, dass er demnächst wieder für eins kandidiert. Und trotzdem
hat er es geschafft, mit nur wenigen Worten die gesamte Nato in helle
Aufregung zu versetzen. 

Vom deutschen Bundeskanzler bis zum Nato-Generalsekretär reagieren
europäische Spitzenpolitiker mit Abscheu und Empörung auf seine
Drohung, säumige Zahler unter den Nato-Partnern im Zweifelsfall der
russischen Kriegsmaschinerie zu überlassen. Andere sehen darin eher
einen Weckruf und machen Vorschläge, was jetzt zur Vorbereitung auf
einen möglichen Wahlsieg Trumps bei der US-Präsidentenwahl am 5.
November zu tun sei. 

Als Top-Thema der Debatte hat sich die nukleare Abschreckung
herauskristallisiert. Brauchen die europäischen Nato-Staaten einen
eigenen nuklearen Schutzschirm für potenzielle Angriffe der
benachbarten Atommacht Russland? Einige halten das für eine
Geisterdebatte, andere finden die Diskussion zwingend notwendig.

Welche Nato-Staaten besitzen Atomwaffen?

Von den neun Ländern, die über Atomwaffen verfügen, sind drei in der

Nato: die USA, Frankreich und Großbritannien. Die Nuklear-Arsenale
dieser drei Länder sind aber sehr unterschiedlich gefüllt. Laut
Friedensforschungsinstitut Sipri besitzen die USA gut 5200 der
weltweit 12 500 Atomwaffen. Großbritannien (225) und Frankreich (290)
kommen zusammen gerade mal auf ein Zehntel davon. Russland hat laut
Sipri sogar noch etwas mehr Atomwaffen als die USA, nämlich knapp
5900. 

Wie funktioniert die nukleare Abschreckung der Nato bisher? 

Kern des Abschreckungssystems sind die in Europa stationierten
US-Atomwaffen, an deren Einsatz über das Konzept der «nuklearen
Teilhabe» auch Länder wie Deutschland beteiligt werden könnten.
Weiterer Bestandteil sind die Atomwaffen, über die die europäischen
Nato-Staaten Großbritannien und Frankreich verfügen. 

Wie ist Deutschland genau beteiligt?

Die Bundeswehr hält Kampfflugzeuge vor, um im Ernstfall US-Atombomben
einsetzen zu können. In Büchel in der Eifel sollen - offiziell nie
bestätigt - etwa 20 thermonukleare B61-Gravitationsbomben der
US-Streitkräfte lagern. Bislang können sie unter deutsche Tornados
geklinkt werden. Entschieden wurde aber, hochmoderne Tarnkappenjets
vom Typ-F-35 für die Aufgabe zu beschaffen, um die Luftwaffe auch
künftig einsatzfähig zu halten. Militärexperten verweisen darauf,
dass Deutschland mit der Fähigkeit zum Einsatz auch den Zugang zu den
nuklearen Planungen in der Nato hat.

Warum hat Deutschland keine eigenen Atomwaffen?

Die 1954 unterzeichneten Pariser Verträge regelten das Verhältnis
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Westmächten USA,
Großbritannien und Frankreich neu. Westdeutschland verzichtete damals
auf die Produktion von Atomwaffen, doch habe sich Bundeskanzler
Konrad Adenauer eine nukleare Option für die Bundesrepublik
offenhalten wollen, schreiben Forscher des Zentrums für
Militärgeschichte in Potsdam. Sie verweisen auf eine Äußerung
Adenauers 1957, in der er taktische Atomwaffen als eine
«Weiterentwicklung der Artillerie» bezeichnet habe, die unverzichtbar
sei. Der völkerrechtlich wirksame Verzicht auf atomare, biologische
und chemische Waffen sei dann aber 1990 zur Vereinigung Deutschlands
bekräftigt worden. 

Wie will Frankreich die nukleare Abschreckung verändern?

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordert seit langem, dass sich
Europa unabhängiger von der Supermacht USA machen sollte und hat
Deutschland und anderen EU-Partnern wiederholt Gespräche zur atomaren
Abschreckung in der EU angeboten. Dabei könnte es um die Frage gehen,
ob es eine stärkere europäische Dimension der nuklearen Abschreckung
geben könnte. Kritiker werfen Frankreich allerdings vor, nur auf der
Suche nach Geld für die Modernisierung seines Atomwaffenarsenals zu
sein - zumal Frankreich hinter den Kulissen deutlich macht, dass eine
Vergemeinschaftung der Kontrolle über seine Atomwaffen ausgeschlossen
ist.

Wie könnte eine europäische nukleare Abschreckung denn faktisch
aussehen?

Auf diese Frage gibt es bislang keine klare Antwort. Theoretisch
könnte Frankreich etwa öffentlich garantieren, dass es bereit wäre,
seine Atomwaffen zum Schutz europäischer Interessen einzusetzen.
Grundsätzlich gibt es auch im EU-Vertrag eine Beistandsverpflichtung.
So heißt es in Artikel 42.7: «Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf
das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen
Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und
Unterstützung.»

Was hält die Bundesregierung von dem französischen Gesprächsangebot?


Sie ist gespalten. Finanzminister Christian Lindner (FDP) hat sich
einem Gastbeitrag für die «FAZ» positiv zu dem Vorstoß Macrons
geäußert und meint, man müsse darüber reden. Verteidigungsminister

Boris Pistorius (SPD) sagte dagegen am Mittwoch zu der Frage, ob sich
die Bundesregierung zu Angeboten Macrons nicht verhalten müsse:
«Nein, das müssen wir nicht.» Aus seiner Sicht müsse der
amerikanische Schutzschirm gehalten und nicht leichtfertig aufgegeben
oder infrage gestellt werden. 

So sieht das auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). «Ich weiß nicht,
was diese Diskussion heute soll», sagte er der «Zeit» zu den
Gedankenspielen über einen europäischen Nuklearschirm. Pistorius hält

die Diskussion sogar für gefährlich «Die Nukleardebatte brauchen wir

jetzt aktuell wirklich als Letztes. Das ist eine Eskalation in der
Diskussion, die wir nicht brauchen.»