So intensiv wie nötig: EU bereitet neue Militärhilfe für Ukraine vor Von Ansgar Haase und Michael Fischer, dpa

21.03.2024 22:04

Tun die EU-Staaten genug, um einen Sieg Russlands im Krieg gegen die
Ukraine zu verhindern? Fragen wie diese bestimmen den Frühjahrsgipfel
in Brüssel. Der Kanzler unterstützt einen brisanten Vorstoß.

Brüssel (dpa) - Die Ukraine kann im Abwehrkampf gegen Russland auf
neue milliardenschwere Militärhilfen der EU hoffen. Am ersten Tag
ihres Frühjahrsgipfels in Brüssel beschlossen Bundeskanzler Olaf
Scholz und andere Staats- und Regierungschefs am Donnerstagabend,
Pläne zur Nutzung von Zinserträgen aus dem eingefrorenen russischen
Zentralbank-Vermögen voranzutreiben. Allein dieses Jahr könnten bis
zu drei Milliarden Euro zusammenkommen. Scholz sagte, das Geld solle
vor allem zum Kauf von Waffen und Munition verwendet werden, die die
Ukraine für ihren Verteidigungskampf brauche.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mahnte in einer per
Videokonferenz übertragenen Ansprache schnelle Entscheidungen an.
Dass Europa bei der Lieferung von Artilleriemunition hinter seinen
Möglichkeiten bleibe, sei beschämend, kritisierte er. Zudem bat er
unter anderem um mehr Luftverteidigungssysteme. Es gehe nicht um
Hunderte, sondern um eine erreichbare Zahl.

Botschaft an Putin

In der beschlossenen Gipfelerklärung zu dem Thema heißt es nun, die
Bereitstellung aller notwendigen militärischen Hilfe werde
beschleunigt. Die EU werde die Unterstützung der Ukraine «so lange
wie nötig und so intensiv wie nötig» fortsetzen. Scholz sagte: «Es

ist unverändert wichtig, dass wir dem brutalen russischen Angriff
etwas entgegensetzen, indem wir die Ukraine unterstützen.» 

Der Kanzler drängte erneut die anderen EU-Mitgliedstaaten, noch mehr
an Militärhilfe zu leisten. «Es müssen alle europäischen Staaten
einen guten Beitrag leisten. Ich sehe da auch erkennbar
Fortschritte», sagte er. Er verwies erneut darauf, dass Deutschland
mit gelieferten oder bereits zugesagten Waffen im Wert von 28
Milliarden Euro der größte Unterstützer der Ukraine in der EU sei.

Konflikt zwischen Scholz und Macron liegt auf Eis

Den Beschluss des Pariser Ukraine-Gipfels von Ende Februar, jetzt
auch außerhalb der EU Waffen und Munition im großen Stil einzukaufen,
bezeichnete Scholz als «großen Durchbruch». Nach diesem Gipfel war es

allerdings auch zu einem offenen Konflikt zwischen Scholz und
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gekommen. 

Macron hatte den Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine für die
Zukunft nicht ausgeschlossen. Scholz hatte einen Tag später dagegen
gehalten und versprochen, dass er keine deutschen Soldaten in die
Ukraine schicken und die Nato sich nicht am Krieg beteiligen werde.
Ende vergangener Woche trafen sich Scholz und Macron mit dem
polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk in Berlin, um die Wogen zu
glätten und ein Zeichen der Einigkeit auszusenden. Der Streitpunkt
Bodentruppen wurde einfach ausgeklammert. 

Estland wirbt für 0,25-Prozent-Ziel

Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas warb beim EU-Gipfel für
ein einheitliches Ziel für Militärhilfen. Wenn jedes Land mindestens
0,25 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Militärhilfen zur
Verfügung stellen würde, könnten die Ukrainer Russland übertrumpfen
,
sagte sie. Eine Einigung darauf gilt derzeit allerdings als
ausgeschlossen.

Nach Zahlen des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW Kiel) müssten
Länder wie Frankreich, Italien und Spanien ihre Ausgaben dann extrem
steigern, da sie derzeit mit einer Quote von rund 0,07 Prozent
deutlich unter der 0,25-Prozent-Marke liegen. Deutschland lag demnach
zuletzt bei rund 0,6 Prozent.

Russisches Geld soll indirekt Ukraine aufrüsten

Den Vorschlag zur indirekten Verwendung russischer Gelder für die
Ukraine hatten Borrell und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen
den Regierungen der EU-Staaten am Mittwoch kurz vor dem Gipfel
übermittelt. Er sieht konkret vor, dass 90 Prozent der nutzbaren
Zinserträge aus der Verwahrung russischer Gelder in den EU-Fonds für
die Finanzierung militärischer Ausrüstung und Ausbildung geleitet
werden sollten. Die restlichen 10 Prozent würden dann in den
EU-Haushalt fließen und genutzt werden, um die Verteidigungsindustrie
in der Ukraine selbst zu stärken. 

Nach Kommissionsangaben sind rund 210 Milliarden Euro der russischen
Zentralbank in der EU eingefroren. Das in Brüssel ansässige
Finanzinstitut Euroclear hatte zuletzt mitgeteilt, 2023 rund 4,4
Milliarden Euro an Zinseinnahmen gemacht zu haben. 

Wann die ersten Gelder für die Ukraine verwendet werden könnten,
blieb am Donnerstag zunächst unklar. Österreichs Bundeskanzler Karl
Nehammer machte deutlich, dass sein Land sich erhofft hätte, dass die
Gelder nur in den Wiederaufbau der Ukraine investiert würden. Für
neutrale Staaten wie Österreich müsse sichergestellt werden, dass sie
sich durch ihre Zustimmung nicht an der Lieferung von Waffen und
Munition beteiligten. Aus Sicht der Kommission wird dieses Problem
dadurch gelöst, dass nur ein Teil des Geldes für Waffen und Munition
ausgegeben werden soll.

Warnungen aus Moskau

EU-Beamte betonen zudem, dass es bei dem Projekt nur um Einnahmen
geht, die Euroclear außerplanmäßig wegen der EU-Sanktionen gegen die

russische Zentralbank mache. Es ist demnach vorerst keine Enteignung
im eigentlichen Sinne geplant.

Als ein Grund dafür gelten rechtliche Bedenken und wahrscheinliche
Vergeltungsmaßnahmen. Moskau hatte die EU bereits im vergangenen Jahr
davor gewarnt, das Eigentum des russischen Staates oder russischer
Bürger zu konfiszieren. Denkbar wäre es beispielsweise, dass dann
auch in Russland tätige Unternehmen aus EU-Ländern zwangsenteignet
werden. Zudem könnte eine direkte Nutzung der russischen
Vermögenswerte auch dazu führen, dass andere Staaten und Anleger das
Vertrauen in den europäischen Finanzplatz verlieren und Vermögen aus
der EU abziehen.

Selenskyj forderte die EU in seiner Videoansprache indirekt auf, sich
darum nicht zu scheren. Es sei angemessen, sowohl die Gewinne als
auch die Vermögenswerte selbst zu nutzen, um den russischen Terror zu
stoppen, sagte er. Russland müsse sich der tatsächlichen Kosten des
Krieges und der Notwendigkeit eines gerechten Friedens bewusst sein.
Der stellvertretende ukrainische Regierungschef Oleksandr Kubrakov
hatte die von Russland verursachten Kriegsschäden zuletzt auf 500
Milliarden Euro beziffert und sich dabei auf aktuelle Zahlen der
Weltbank, der Europäischen Union und der Vereinten Nationen berufen.