EU-Gericht kippt Sanktionsbeschlüsse gegen russische Oligarchen Von Regina Wank und Friedemann Kohler, dpa

10.04.2024 15:19

Seit zwei Jahren erlässt die EU wegen des russischen Angriffs auf die
Ukraine Sanktionen - die aber öfter mal gekippt werden. Ein neues
Urteil weckt nun Kritik von ganz unterschiedlichen Seiten.

Luxemburg (dpa) - Das Gericht der EU hat Sanktionsbeschlüsse der
Europäischen Union gegen die russischen Oligarchen Michail Fridman
und Pjotr Awen für nichtig erklärt. Der Rat der EU habe bei den
Entscheidungen zwischen Februar 2022 und März 2023 keine
hinreichenden Belege für die Aufnahme in die Sanktionsliste
geliefert, entschieden die Richter am Mittwoch in Luxemburg. Fridman
und Awen sind Gründer und wichtige Anteilseigner des großen
Finanzkonzerns Alfa-Group. Die EU hatte gegen die Milliardäre kurz
nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022
Strafmaßnahmen verhängt. Sie ordnete an, Gelder einzufrieren und
erließ ein Einreiseverbot. Auch die US-Regierung sanktionierte sie.

Die EU hatte die Sanktionen damit begründet, dass Fridman und Awen
russische Entscheidungsträger finanziell unterstützt und damit die
territoriale Unversehrtheit der Ukraine untergraben hätten. Die
Richter entschieden nun aber, dass diese Vorwürfe nicht hinreichend
belegt seien und die Aufnahme in die Liste daher ungerechtfertigt
sei. Auch wenn sich möglicherweise eine gewisse Nähe der beiden
Personen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin bejahen lasse,
beweise dies nicht, dass damit Maßnahmen unterstützt würden, die die

Ukraine bedrohten. 

«Die Sanktionen sind teilweise handwerklich erschreckend schlecht
gemacht», sagte der Experte für Sanktionsrecht, Viktor Winkler, der
dpa. Sanktionen seien der tiefgehendste Grundrechtseingriff
überhaupt, rechtlich sogar noch schärfer als die Haftstrafe. Denn
wenn jemand zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werde, gebe es davor
ein strafrechtliches Verfahren mit all den Anforderungen des
Gesetzes. Das falle bei Sanktionen weg.

«Deswegen gibt es dafür besonders hohe Hürden - die wichtigste von
Ihnen: Keine Sanktionen für vergangenes Tun, nur für aktuelles
Handeln», sagte Winkler. Sanktionen dürften rechtlich also eigentli
ch
nur eine Gefahrenabwehr sein, zum
Beispiel: Man sanktioniert jemanden, damit er in der Zukunft nicht
weiter den Krieg fördert. Hier liegt Winkler zufolge auch ein
Problem: «Viele der aktuellen Sanktionen beinhalten aber nur
Vergangenes und keine auf Tatsachen erfolgte Prognose.»

Kremlsprecher Dmitri Peskow kritisierte nach dem Urteilsspruch dann
auch gleich die Sanktionen insgesamt. «Wir betrachten alle diese
Sanktionen als illegal, ungerecht, destruktiv», sagte der Sprecher in
Moskau. Sie seien auch eine Schande für die Institutionen, die sie
verhängten.

Kritik an der Entscheidung, wenn auch aus anderen Gründen, gab es bei
Gegnern der russischen Regierung. «Weder Fridman noch Awen haben sich
gegen den Krieg ausgesprochen oder versucht, ihn zu stoppen - sie
haben nur teure Anwälte und einflussreiche Lobbyisten engagiert»,
erklärte Julia Nawalnaja, Witwe des in Haft gestorbenen
Kremlkritikers Alexej Nawalny. Das Urteil schwäche die russische
Antikriegsbewegung, schrieb sie im Netzwerk X (früher Twitter).

Dabei hatte Nawalnys enger Mitarbeiter Leonid Wolkow vergangenes Jahr
selbst vorgeschlagen, diese beiden Oligarchen unter Bedingungen von
den Sanktionen auszunehmen. Sie hätten dafür öffentlich mit der
Führung von Präsident Wladimir Putin brechen sollen, schrieb Wolkow
am Mittwoch auf Telegram. Dies hätte der EU wie den Mitgliedern der
Moskauer Elite einen gangbaren Ausweg zeigen sollen. Nun hätten die
EU-Richter Awen und Fridman ohne jedes Zugeständnis vom Haken
gelassen. «Was für ein Signal sendet das Gericht an Putin, dessen
Freunde, die russischen Oligarchen?»

Die Entscheidung des EU-Gerichts bedeutet allerdings nicht, dass
Fridman und Awen sofort von der EU-Sanktionsliste gestrichen werden
müssen. Zum einen kann gegen das Urteil noch vor dem höchsten
europäischen Gericht, dem Europäischen Gerichtshof (EuGH),
vorgegangen werden. Zum anderen hat der Rat der EU bereits neue
Sanktionsbeschlüsse gegen die beiden Männer erlassen, die zunächst
nicht von dem Urteil betroffen sind.

Vor knapp drei Wochen hatte das EU-Gericht bereits geurteilt, dass
der Ex-Formel-1-Rennfahrer Nikita Masepin nicht hätte sanktioniert
werden dürfen. Begründet wurde dies damit, dass die familiäre
Beziehung zu seinem Vater - einem Geschäftsmann mit angeblich enger
Freundschaft zum russischen Präsidenten Wladimir Putin - nicht
genüge, um anzunehmen, dass er durch gemeinsame Interessen mit ihm
verbunden sei. 

Ähnlich argumentierten die Richter, als sie im vergangenen Jahr die
Sanktionen gegen die Mutter des inzwischen verstorbenen Chefs der
russischen Privatarmee Wagner, Violetta Prigoschina, kippten. Ein
Verwandtschaftsverhältnis reiche nicht aus, um Strafmaßnahmen zu
verhängen. Viele andere Sanktionierte sind unterdessen mit ihren
Klagen vorläufig gescheitert, darunter der ehemalige Besitzer des FC
Chelsea, Roman Abramowitsch.

Wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine erließ die
EU bislang gegen fast 2000 Personen und Organisationen Sanktionen.
Derzeit sind mehrere Dutzend Klagen gegen die Strafmaßnahmen vor
Gerichten anhängig. In jedem anhängigen Fall stehe das Gericht unter
einem enormen politischen Druck, sagte Experte Winkler der dpa. «Die
Richter wissen, dass ihre Entscheidung unter Umständen Wasser auf den
Mühlen der Kreml-Propaganda sein wird.»