Europa im Klassenzimmer - Wenn verschiedene Nationen gemeinsam lernen Von Birgit Reichert, dpa
22.05.2024 04:00
Der Name ist Programm. Das Schengen-Lyzeum kennt keine Grenze: Hier
lernen Schüler mit 30 Nationalitäten zusammen. Aber Unterschiede gibt
es dann doch.
Perl (dpa/lrs) - Schon im Flur geht es international zu. Die Schüler
reden mal Deutsch, mal Französisch oder Luxemburgisch. «Es gibt keine
eine Sprache an dieser Schule», sagt Lehrer Redwane Chani, der am
deutsch-luxemburgischen Schengen-Lyzeum im saarländischen Perl
Politik und Geschichte unterrichtet. Und auch im Klassenzimmer ist
der Sprachen-Mix ganz normal. «Sie sind alle mehrsprachig», sagt der
Luxemburger über seine Schüler und wechselt zwischen den Sprachen hin
und her. «Im Klassenraum spürt man keine Grenze. Wir leben hier
wirklich Europa.»
Dabei überqueren die meisten Schüler und Lehrer jeden Tag
Staatsgrenzen. Denn die Schule liegt in einem Dreiländereck: Unweit
von Perl liegt das luxemburgische Schengen auf der anderen
Moselseite. Und südlich von Perl grenzt Apach in Frankreich an. An
der Schule lernen rund 850 Schülerinnen und Schüler - mit rund 30
Nationalitäten.
Schüler leben in drei Ländern
Julie kommt jeden Tag von einem Ort an der luxemburgischen Mosel zu
der Schule in Deutschland. «Für mich gibt es die Grenze nicht», sagt
die 18-Jährige. Auch für den Deutsch-Franzosen Raphael (16) ist das
Internationale Alltag. «Ich kenne es nicht anders», sagt er. Seine
ersten Lebensjahre habe er in Luxemburg gewohnt, nun lebe er in Perl.
Und ein Teil seiner Familie wohne in Frankreich. «Dadurch hat für
mich schon immer viel Rotation zwischen den Ländern stattgefunden.»
Marion Zenner ist die Schulleiterin der Schule, die es seit 2007
gibt. Dass zwei Länder eine Schule gegründet hätten und in dieser
Form zusammenarbeiten würden, sei weltweit einzigartig, sagt die
Luxemburgerin mit familiären Wurzeln in der Pfalz. Das Lyzeum in Perl
unterscheide sich von den ebenfalls multikulturellen Europaschulen,
bei denen die Schüler jeweils in einem Land lebten. «Wir leben hier
in drei verschiedenen Ländern und somit in unterschiedlichen sozialen
Gefügen. Das ist eine Bereicherung», sagt sie.
Wählen bei Europawahl?
Klar, dass Europa auch Thema im Politikunterricht ist. Die Schüler
haben sich mit Blick auf die Europawahl am 9. Juni bereits mit
größeren Parteien beschäftigt. Auch der politische Rechtsruck in
manchen Ländern und die wachsende Zahl von Europagegnern ist Thema.
«Das Leben, wie wir es kennen, ist momentan von vielen Seiten
gefährdet», sagt Raphael, der zu den 16-Jährigen gehört, die in
Deutschland erstmals bei der Europawahl wählen dürfen. Er werde von
seinem Stimmrecht Gebrauch machen.
Er räumt ein, dass er es schwierig finde, sich bei all den Parteien
einen Überblick zu verschaffen. Auch Daniel (16) aus dem
saarländischen Rehlingen findet es wichtig, seine Stimme abzugeben.
«Jeder sollte seine Meinung vertreten, damit die Parteien im
Europaparlament auch ein Abbild der Meinung in der Bevölkerung sind»,
sagt er. Wenn manche nicht wählen gingen, werde dieses Bild
«verzerrt». Aber nicht jeder der Schüler, der Raum sitzt, will
wählen gehen. «Ich weiß zu wenig», sagt eine 17-Jährige.
Doch Unterschiede in Europa
Und dann kommt Europa in dem Klassenzimmer doch an Grenzen. Denn die
Schüler, die in Luxemburg wohnen, dürfen - auch wenn sie schon 16
Jahre alt sind - nicht wählen gehen. Das gehe in Luxemburg erst ab 18
Jahren und zudem bestehe dort Wahlpflicht, sagt Lehrer Chani. Und wie
finden die Jugendlichen den Unterschied? «Mich stört das nicht. Ich
weiß, dass ich später wählen und dann meine Meinung vertreten kann»
,
sagt die 16-jährige Charlotte von der Luxemburger Mosel. Julie meint,
sie hielte es für gut, wenn man in Luxemburg schon auf freiwilliger
Basis wählen gehen dürfte.
Schulleiterin Zenner sagt, sie stoße im Schulalltag immer wieder auf
Unterschiede: «Das sind oft Kleinigkeiten», sagt sie. Zum Beispiel:
Busverbindungen. In Luxemburg seien Busse kostenfrei, im Saarland und
in Rheinland-Pfalz kosteten sie oder es gebe Förderungen.
Grenzüberschreitende Busverbindungen seien selten. Dann gebe es auch
teils verschiedene Vorgaben der Ministerien der zwei Länder. Die
Schule werde von beiden Ländern finanziert - 50 Prozent der Lehrer
kommen aus Luxemburg, die andere Hälfte aus Deutschland.
Das Schengen-Lyzeum sei «ein tolles Beispiel, wie Europa gelebt
wird», sagt die saarländische Bildungsministerin Christine
Streichert-Clivot (SPD). «Für uns ist die europäische Ausrichtung an
all unseren Schulen eine ganz wichtige.» Das liege daran, dass das
Saarland eine Grenzregion sei. «Wir haben auch einen besonderen
Auftrag, auch in der Europäischen Union zu zeigen, wie man friedlich
an der Grenze leben kann», sagt sie.
Offenheit lernen
Dass Europa wichtig ist - das sehen die Kinder in der Schule jeden
Tag, meint Zenner. «Auch dass wir Europa proaktiv am Laufen halten
müssen.» Für sie persönlich sei aber diese Offenheit, die die Kinde
r
im Alltag lernten, das Wichtigste. Anderen Kulturen, anderen
Sprachen, anderen Meinungen gegenüber. Dass die Schule besonders sei,
merkten auch die Kinder. Manche kämen sogar aus Luxemburg-Stadt,
manche aus dem Raum Konz in der Nähe von Trier. Und es gebe viele
luxemburgische Kinder, die in Deutschland wohnten, die das
Schengen-Lyzeum besuchten.
Als es in der Corona-Pandemie plötzlich wieder Grenzposten gab und
man Passierscheine brauchte, um zur Schule zu kommen, habe sich das
«so was von falsch angefühlt», sagt Zenner. Gerade an diesem Ort bei
Schengen, das für ein grenzenloses Europa steht. «Solche Grenzposten
mit Polizisten, die kann man sich hier eigentlich nicht mehr
vorstellen», sagt Raphael. So etwas dürfe sich nicht mehr wiederholen
- da sind sich alle einig.