Große Herausforderung für kleine Gemeinden bei Europawahl Von Birgit Reichert und Harald Tittel , dpa
06.06.2024 04:00
Einige kleine Gemeinden in Rheinland-Pfalz dürfen am Sonntag die
Stimmen zur Europawahl nicht selbst auszählen. Sie müssen die
Wahlurne zur Nachbargemeinde bringen. Was steckt dahinter?
Herbstmühle/Burg/Koblenz (dpa/lrs) - In etlichen Mini-Gemeinden in
Rheinland-Pfalz wird am Sonntag im Wohnzimmer gewählt. «Wir haben
kein Gemeindehaus», sagt Ortsbürgermeister Bruno Schoos (parteilos)
in Herbstmühle im Eifelkreis Bitburg-Prüm. Daher stelle er - wie auch
schon oft zuvor - sein Wohnzimmer als Wahllokal zur Verfügung. «Es
sind ja nur ein paar Wähler, aber wir müssen das Wahlbüro von 8.00
Uhr bis 18.00 Uhr geöffnet haben.» Der Ort nahe der luxemburgischen
Grenze zählt 21 Einwohner.
Zwei Wahlurnen stehen bereit: eine alte aus Holz für die
Kommunalwahlen. Für die Europawahl habe er eine Kartonbox gebastelt,
erzählt der 63-Jährige. Und als «Wahlkabine» dienen Rechtecke aus
Spanplatten, die er als Sichtschutz auf einen Tisch stellt.
Herausforderung Europawahl
Doch etwas ist in Herbstmühle bei dieser Wahl anders als sonst:
Erstmals dürfen die Stimmzettel zur Europawahl nicht vor Ort
ausgezählt werden. Denn die Europawahlordnung sieht laut
Landeswahlleiter vor, dass die Auszählung von Urnen, in denen weniger
als 30 Stimmzettel sind, gemeinsam mit den Stimmen einer
Nachbargemeinde erfolgen muss. Zur Wahrung des Wahlgeheimnisses, wie
es zur Begründung heißt.
«Ein bisschen ärgere ich mich schon darüber», sagt Schoos. «Weil
ich
absolut keinen Grund dafür sehe, dass wir die nicht auszählen
dürfen.» Und weil es extra Zeit koste. Konkret bedeute es, dass nach
der Wahl drei Personen vom Wahlvorstand ins benachbarte Rodershausen
fahren müssten, um die Urne oder einen versiegelten Umschlag mit den
Stimmzetteln zur Auszählung dort abzugeben. Erst nach der Rückkehr
könne man dann in Herbstmühle mit der Auszählung der Kommunalwahlen
beginnen.
Kein Einzelfall
Für kleine Gemeinden sei vor allem die Europawahl «herausfordernd»,
sagt der Sprecher des Landeswahlleiters in Bad Ems, Jürgen Hammerl.
Man gehe davon aus, dass es «einige kleine Gemeinden» gibt, die die
Urnen zur Auszählung in die Nachbargemeinde bringen müssten. Ob mehr
oder weniger als 30 Stimmzettel in der Urne liegen, hängt neben der
Zahl der wahlberechtigten Einwohner auch von der Wahlbeteiligung und
der Briefwahl ab.
Mini-Gemeinden mit bis zu 30 Einwohnern gibt es in Rheinland-Pfalz 17
Stück, die vor allem in der Eifel liegen. Die bundesweit kleinste
Kommune Dierfeld findet sich im Kreis Bernkastel-Wittlich: Sie zählte
laut Statistischem Bundesamt Ende 2022 nur neun Einwohner. Und im
Kreis Bad Kreuznach zählt Heinzenberg (25 Einwohner) bei Kirn zu den
Minis, wie aus einer Zusammenstellung des Statistischen Landesamtes
in Bad Ems hervorgeht.
«Unglückliche Lösung»
Der Ortsbürgermeister von Heinzenberg, Stephan Ostgen (parteilos),
findet die Mindestzahl zum Auszählen vor Ort «sehr unglücklich» und
«praxisfremd». In den vergangenen Jahrzehnten habe man immer die
Stimmen zur Europawahl vor Ort ausgezählt. «Und wir hatten immer
unter 30 Urnen-Wähler.» Und das sei nie ein Problem gewesen. Kritisch
sehe er auch, dass die Briefwähler bei den Urnen-Stimmen nicht
eingerechnet würden, da diese beim Kreis ausgezählt würden.
Eine Herausforderung seien auch die Vorgaben zu Besetzung der
Wahlvorstände und zur Abwicklung der Wahl, sagt der hessische
Regierungsbeamte. Kleine Gemeinden hätten oft Probleme, die
Wahlvorstände zu besetzen. In Heinzenberg bestehe der Vorstand aus
sechs Personen. Da drei davon die Urne nach Kellenbach fahren
müssten, könnte die Auszählung der Kommunalwahl erst nach deren
Rückkehr ins Gemeindehaus starten. Denn dafür müssten mindestens fü
nf
Mitglieder des Wahlvorstandes anwesend sein, sagt Ostgen.
Auszählung steht teils noch auf der Kippe
In Burg in der Südeifel mit rund 20 Einwohnern gibt es auch bereits
einen Plan. «Wir müssen mit Wahlvorsteher, Vertreter und
Schriftführer nach Mettendorf fahren», sagt Ortsbürgermeisterin
Ingrid Billen (parteilos). Der Ort sei nur drei Kilometer entfernt,
aber: «Das stockt ein bisschen das Auszählen», sagt die 68-Jährige.
Es gebe aber auch etliche Gemeinden, die noch nicht wüssten, ob sie
auszählen dürften oder nicht.
Auch bei Billen zieht das Wahllokal in der Stube ein. Die Wahlurnen
würden auf einem kleinen Tischchen platziert. «Alles geht genau nach
Vorschrift», sagt Billen. Im Wohnzimmer wählen - das sei für viele
kleinen Gemeinden, die keine Gemeinschaftshäuser hätten, Usus. Der
Wahltag habe es in sich: Man müsse alles beachten, was auch für große
Gemeinden gelte, auch wenn sehr viel weniger auszuzählen sei. «Es
muss alles genauso genau sein.»
Wenn am Abend auch alle Niederschriften zur Kommunalwahl erledigt
seien, müsse sie noch nach Neuerburg fahren. Dort gebe sie dann den
Computer, der der Gemeinde zur Wahl zur Verfügung gestellt werde,
mitsamt Drucker und Stick ab. Eine digitale Übermittlung sei nicht
erlaubt, sagt auch Ostgen in Heinzenberg. Er werde die Sticks manuell
in Kirn abgeben.
Viele kleine Gemeinden im Land
In Rheinland-Pfalz gibt es insgesamt rund 2300 Gemeinden. Mehr als
1000 Ortsgemeinden im Land haben weniger als 500 Einwohner (Stand 30.
Juni 2023). Rund 140 Gemeinden liegen unter 100 Einwohnern. Mehr als
10 000 Einwohner haben 48 Kommunen.