Der Kretschmann-Bonus schmilzt weg Von Nico Pointner und David Nau, dpa

10.06.2024 15:24

Baden-Württemberg rückt nach rechts, und die Grünen stürzen radikal

ab. Gerade im Südwesten schmerzt das die Ökopartei. Ist ihre Zeit
damit abgelaufen?

Stuttgart (dpa/lsw) - Die Grünen, sonst in Baden-Württemberg so
stolze Regierungspartei, wirken an diesem Sonntagabend geprügelt - im
wahrsten Sinne des Wortes. Fraktionschef Andreas Schwarz wird das
Wahlergebnis beschreiben als ein «dickes, blaues Auge», das man da
kassiert habe. Die Landesvorsitzenden der Grünen sagen, dass der
Anspruch der Partei ein anderer sein müsse, «gerade hier in
Baden-Württemberg». Und der politische Gegner frohlockt: Die Grünen
hätten im Südwesten noch mehr verloren als im Bundesschnitt, betont
FDP-Politiker Hans Ulrich Rülke. «Das zeigt klar, dass die Uhr der
Grünen im Ländle abgelaufen ist.» Er träumt schon von einer
bürgerlichen Landesregierung ab 2026.

Die Grünen erzielen am Sonntag bei der Europawahl in
Baden-Württemberg laut vorläufigem Endergebnis gerade einmal 13,8
Prozent. Das ist mehr als nur ein herber Dämpfer, das kann man schon
als Absturz bezeichnen. 2019, vor Corona, Ukraine-Krieg und
Heizungsgesetz, erzielte die Ökopartei bei der Europawahl noch 23,3
Prozent im Südwesten. In allen 44 Stadt- und Landkreisen muss die
Regierungspartei Verluste hinnehmen - selbst in ihren Hochburgen wie
Freiburg, Tübingen oder Konstanz teils deutliche. Man müsse
aufarbeiten, so ist das Credo. 

Wirken der Ampelregierung wirft Schatten

Nun wird eine Europawahl gern genutzt vom Wähler, um Regierende
abzustrafen, die Grünen sind der Wahlverlierer in ganz Deutschland,
und das Wirken der Ampelregierung wirft eben seine Schatten auf das
Ergebnis in Baden-Württemberg. Aber hier im Ländle, wo die Grünen
seit mehr als einem Jahrzehnt eine Regierung führen, könnte das
Ergebnis auch eine Zeitenwende einläuten - zurück zur CDU, die das
Land knapp 60 Jahre regierte, bevor die Grünen im Jahr 2011 ans Ruder
kamen.

Was dem Grünen-Landeschef besonders Sorge bereitet - auch mit Blick
auf kommende Wahlen - ist die sinkende Zustimmung der Ökopartei bei
Jungwählerinnen und Jungwählern. «Das trifft mich besonders», sagt

Pascal Haggenmüller. Bisher hätten die Grünen immer Jungwählerinnen

und Jungwähler ansprechen können. Nun müsse man sehen, wie man es
schaffen könne, diese Wählergruppe wieder zu begeistern. Denn auch
unter den 16- bis 24-Jährigen liegt die CDU deutlich vor den Grünen -
keine gute Ausgangslage für die nächste Landtagswahl. 

Der grüne Einbruch um 9,5 Prozentpunkte ist auch insbesondere
bemerkenswert, da die Grünen sich mit dem beliebten Zugpferd Winfried
Kretschmann im Ländle häufig als stärker erwiesen als die
Parteikollegen im Bund. Bei dieser Wahl liegen sie nur noch gut zwei
Prozentpunkte vor der Bundespartei. Der Kretschmann-Bonus, er ist
praktisch weggeschmolzen. Für den Mann, der als aussichtsreichster
Nachfolger bei den Grünen gehandelt wird,
Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir, wird eine Kandidatur in
Baden-Württemberg nun nicht attraktiver. Die Spitzenkandidatur werde
zur entscheidenden Zeit geklärt, bügelt Haggenmüller die Frage im SWR

ab.

Verluste auch bei Gemeinderatswahlen

Auch bei den Gemeinderatswahlen müssen die Grünen einer SWR-Prognose
zufolge in den drei größten Städten des Landes mit Verlusten rechnen,

wenngleich diese in den Städten Stuttgart, Karlsruhe und Mannheim
nicht so stark ausfallen wie bei der Europawahl. Trotzdem verliert
die Ökopartei vermutlich sowohl in Stuttgart als auch in Mannheim den
ersten Platz - und zwar in beiden Fällen an ihren Koalitionspartner
im Land: die CDU.

Die wird auch bei der Europawahl noch stärker und holt im Land dem
vorläufigen amtlichen Endergebnis zufolge 32,0 Prozent, 1,2
Prozentpunkte mehr als vor fünf Jahren. Die CDU sei wieder da, freut
sich Generalsekretärin Nina Warken. Auf die Koalitionsarbeit, so hört
man aus der CDU, werde das Ergebnis keine Auswirkungen haben. Dabei
merkt man bereits seit geraumer Zeit, dass das Regieren ruppiger und
die CDU selbstbewusster wird. Der Druck, sich mit Blick auf die
Landtagswahl zu profilieren, wird für beide Parteien wachsen. 

Wahlsieger nach hinzugewonnenen Prozentpunkten ist jedenfalls eine
Partei, mit der keine andere nach der Landtagswahl koalieren möchte:
Die AfD schafft mit 4,7 Prozentpunkten in Baden-Württemberg das
dickste Plus, kommt nun auf 14,7 Prozent. Die Rechtspopulisten
gewinnen in sämtlichen Stadt und Landkreisen dazu, trotz all der
Skandale rund um Verbindungen der Kandidaten nach Russland oder
China. Das bereitet Grünen wie CDU gleichermaßen Sorgen. Die Republik
rückt nach rechts, der Südwesten zieht mit.