Nach der Europawahl: Poker um Spitzenposten beginnt

10.06.2024 15:44

Was muss Ursula von der Leyen anderen Parteien bieten, damit sie ihre
Wiederwahl als Kommissionspräsidentin unterstützen? Um diese Frage
geht es nach der Europawahl. Die FDP wird bereits deutlich.

Brüssel (dpa) - Nach der Europawahl hat der Poker um die künftige
Besetzung von EU-Spitzenposten begonnen. Das Mitte-Rechts-Bündnis EVP
forderte am Montag Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Frankreichs
Präsident Emmanuel Macron auf, die Wiederwahl von Ursula von der
Leyens als EU-Kommissionspräsidentin zu unterstützen. Als
Gegenleistung soll es im Europäischen Parlament eine Zusammenarbeit
geben. 

«In diesen turbulenten Zeiten brauchen wir Stabilität, wir brauchen
Verantwortlichkeit und wir brauchen Kontinuität», sagte von der Leyen
am Montag bei einer Pressekonferenz in Berlin. Man habe mit den
Sozialdemokraten und Liberalen in den vergangenen fünf Jahren «gut
und vertrauensvoll konstruktiv zusammengearbeitet». Dies habe ein
Fundament geschaffen, an das man nun anknüpfen könne. 

Zu der Frage, warum sie zunächst keine Gespräche mit den europäischen

Grünen führen werde, erklärte sie, die Gespräche mit den
Sozialdemokraten und Liberalen seien der erste Schritt, auf den
theoretisch weitere folgen könnten.

Die Grünen wollen mitregieren

Grünen-Spitzenkandidatin Terry Reintke betonte am Montag in Berlin:
«Wir wollen mitregieren und damit unseren Teil zur Absicherung von
stabilen proeuropäischen Mehrheiten in der Europäischen Union
beitragen.» Es gehe um Wohlstand, Klimaschutz, Frieden, Freiheit und
Sicherheit. «Und dazu sind wir bereit, Ursula von der Leyen zu einer
demokratischen Mehrheit zu verhelfen.» Wichtig seien ihrer Partei
insbesondere der Green Deal und die Unterstützung von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit.

CDU-Parteichef Friedrich Merz verwies allerdings darauf, dass das
Mitte-Rechts-Bündnis EVP im neuen Europäischen Parlament schon
gemeinsam mit den Sozialdemokraten und Liberalen auf eine komfortable
Mehrheit von etwa 400 der 720 Stimmen kommt.

Angesichts des klaren Wahlsiegs des Mitte-Rechts-Bündnisses EVP gilt
es als wahrscheinlich, dass die CDU-Politikerin von der Leyen eine
zweite Amtszeit als Präsidentin der mächtigen Europäischen Kommission

bekommt. Für die dafür notwendige Wahl im Europäischen Parlament ist

sie allerdings auf die Unterstützung anderer Parteienfamilien wie den
Sozialdemokraten und Liberalen angewiesen. Diese dürften im Gegenzug
erwarten, andere Spitzenposten besetzen zu dürfen.

Wer bekommt welchen Topjob?

Insbesondere geht es dabei um das Amt des EU-Ratspräsidenten sowie
des EU-Außenbeauftragten. Als EU-Ratspräsident leitet derzeit der
belgische Liberale Charles Michel die Gipfeltreffen der Staats- und
Regierungschefs, EU-Chefdiplomat war in den vergangenen fünf Jahren
der spanische Sozialdemokrat Josep Borrell. Als möglicher Kandidat
für den Ratschef-Posten gilt derzeit der frühere portugiesische
Regierungschef António Costa, als mögliche Kandidatin für das Amt des

Außenbeauftragten die estnische Regierungschefin Kaja Kallas. Costa
ist Sozialist und Kallas Liberale. 

FDP-Chef Christian Lindner stellte am Montag allerdings klar, dass es
nicht nur um Personalien geht. «Ursula von der Leyen ist in der
Pole-Position, sie ist aber nicht am Ziel. Für uns Freie Demokraten
ist es essenziell, dass die Politik der vergangenen fünf Jahre nicht
fortgesetzt wird», sagte er in Berlin. Es gebe «inhaltliche
Bedingungen». Als Beispiele nannte er einen Verzicht auf neue
europäische Gemeinschaftsschulden und eine Regelung, die eine Zukunft
für den Verbrennungsmotor ermöglicht.

Staats- und Regierungschefs müssen Vorschlag machen

Damit die bisherige EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen eine
zweite Amtszeit antreten kann, muss der Europäische Rat - das Gremium
der Staats- und Regierungschefs - sie mit qualifizierter Mehrheit dem
Europaparlament als Kandidatin vorschlagen. Das heißt: Neben den 13
Staats- und Regierungschefs, die der gleichen Parteienfamilie
angehören wie sie, müssen noch mindestens drei weitere Chefs von
großen Mitgliedstaaten für sie stimmen. Danach steht dann die
offizielle Wahl im Europäischen Parlament an.

Dort wird das Mitte-Rechts-Bündnis EVP mit den deutschen Parteien CDU
und CSU nach jüngsten vorläufigen Wahlergebnissen künftig auf 185
Sitze (zuletzt 176 von 705) und damit auf mehr als ein Viertel der
nun 720 Sitze kommen. Zweitstärkstes Lager bleiben demnach die
Sozialdemokraten. Sie kommen auf 137 Mandate (zuletzt 139). Danach
folgen die Liberalen, die auf 79 Sitze abrutschen (zuletzt 102),
sowie die zwei bisherigen rechtspopulistischen Parteienbündnisse EKR
und ID, die teils deutlich gewinnen: EKR kommt auf 73 (zuletzt 69)
Sitze, ID auf 58 (zuletzt 49). 

AfD bemüht sich um Anschluss

Nicht hineingerechnet sind dabei die AfD-Abgeordneten. Die AfD wird
zu den fraktionslosen Parteien gezählt, da sie kurz vor der
Europawahl aus der ID-Fraktion ausgeschlossen worden war. Hintergrund
waren unter anderem umstrittene Äußerungen des AfD-Spitzenkandidaten
Maximilian Krah zur SS und eine China-Spionageaffäre um einen
Mitarbeiter Krahs. Am Montag beschlossen die anderen neu gewählten
AfD-Abgeordneten nun, Krah nicht in die neue Delegation aufzunehmen.
Dies könnte den Weg für eine Zusammenarbeit mit anderen
Rechtsaußen-Parteien wieder freimachen.

Infrage kommen dafür etwa die Fratelli d'Italia (Brüder Italiens) von
Italiens rechter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und die
französische Partei Rassemblement National von Marine Le Pen. Beide
gewannen in ihren Ländern die Europawahl.

Ein großer Verlierer der ersten Europawahl nach der verheerenden
Corona-Pandemie und dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen
die Ukraine sind die Grünen. Sie kommen den jüngsten Ergebnissen
zufolge nur noch auf 52 Sitze (zuletzt 71). Die Linken besetzen
nahezu unverändert 36 Sitze (zuletzt 37).