Nach Ampel-Wahlfiasko Durchhalteparolen vor der großen Bewährungsprobe Von Michael Fischer, Martina Herzog, Carsten Hoffmann, Jörg Blank, dpa

10.06.2024 16:00

Viel schlimmer hätte es für die Ampel bei der Europawahl kaum kommen
können. Trotz des Desasters will sie zusammenbleiben. Ob das wirklich
noch funktioniert, wird sich bis Anfang Juli zeigen.

Berlin (dpa) - Trotz teils dramatischer Verluste bei der Europawahl
haben die Ampel-Parteien Forderungen nach einer Neuwahl des
Bundestags zurückgewiesen. Die Parteispitzen von SPD, FDP und Grüne
sprachen am Montag Bundeskanzler Olaf Scholz das Vertrauen aus, der
das schlechteste Ergebnis der Sozialdemokraten bei einer
gesamtstaatlichen Wahl seit mehr als 130 Jahren mitzuverantworten
hat. Ob die Zusammenarbeit in dem angeschlagenen Bündnis tatsächlich
noch funktioniert, werden nun die nächsten Wochen zeigen. Die
Haushaltsverhandlungen werden zur Bewährungsprobe für die
Regierungskoalition. Am 3. Juli will das Kabinett seine Pläne
vorlegen.

Die drei Koalitionsparteien kamen bei der Wahl zusammen nur noch auf
31 Prozent - im Vergleich zu 52 Prozent bei der letzten
Bundestagswahl 2021. Zudem landeten sie alle hinter der AfD, die sich
trotz aller Skandale im Wahlkampf Platz zwei hinter der Union
sicherte und in Ostdeutschland sogar mit deutlichem Abstand stärkste
Kraft wurde. Dort finden am 1. September die nächsten Landtagswahlen
statt - in Sachsen und Thüringen.

Scholz schweigt zunächst - Kühnert nimmt ihn in Schutz

Scholz hatte am Sonntagabend zunächst zu den Ergebnissen geschwiegen
und war über die Wahlparty im Willy-Brandt-Haus geschlendert, als ob
nichts gewesen wäre. Am Montag ließ er seinen Regierungssprecher
Steffen Hebestreit zur Frage einer Neuwahl des Bundestags sagen. «Der
Wahltermin ist im Herbst nächsten Jahres regulär, und das planen wir
auch so umzusetzen.» 

Mit 13,9 Prozent hat die Kanzlerpartei SPD am Sonntag das
schlechteste Ergebnis eingefahren, seit sie 1891 erstmals unter
diesem Namen bei einer gesamtstaatlichen Wahl antrat. Im Wahlkampf
hatte sich Scholz bewusst in die erste Reihe gestellt, ließ sich an
der Seite von Spitzenkandidatin Katarina Barley plakatieren und trat
auf mehreren Großveranstaltungen als Top-Act auf. Das Wahlergebnis
geht deshalb auch auf sein Konto. 

Generalsekretär Kevin Kühnert nahm ihn am Montag in Schutz. Dass der
Wahlkampf schlecht gelaufen sei, heiße nicht, dass er ohne Scholz auf
den Plakaten besser gelaufen wäre, sagte er trotzig. «Wir gewinnen
zusammen und wir verlieren zusammen, das ist unsere gemeinsame
Wahlniederlage.» 

Lindner sieht «keinen Grund, Vertrauen in Frage zu stellen»

Auch FDP-Chef Christian Lindner zog die Führungsfähigkeit des
Kanzlers und die Ampel als Regierungsmodell nicht in Zweifel. «Wir
haben ein gemeinsames Regierungsprogramm, einen Koalitionsvertrag, an
dem wir gemeinsam arbeiten. Und solange sich alle zu der
Arbeitsgrundlage bekennen, gibt es ja keinen Grund, Vertrauen infrage
zu stellen», sagte er. 

Ähnlich äußerte sich Grünen-Chef Omid Nouripour. «Es braucht kein
e
Vertrauensfrage», sagte er auf eine Journalistenfrage nach dem
Rückhalt für die Koalition und Kanzler Scholz. Man habe mit SPD und
FDP einen Vertrag für vier Jahre geschlossen, an dem man festhalte.

Haushaltsverhandlungen mit harten Badagen

Was auf den Ampel-Pressekonferenzen gesagt wurde, sind aber zunächst
einmal nur Durchhalteparolen. Ob die Ampel wirklich noch
funktioniert, wird sich in den Haushaltsverhandlungen zeigen, die
ohnehin schon schwierig genug sind. SPD-Chef Lars Klingbeil hat als
Konsequenz aus dem Wahlergebnis bereits angekündigt, mit harten
Bandagen für die Belange seiner Klientel einzutreten. «Unsere Leute
wollen uns kämpfen sehen.» Und Kühnert kündigte an: «Einen
Sparhaushalt auf Kosten des sozialen Zusammenhalts - den kann, den
wird es mit der Sozialdemokratie nicht geben.» 

Dem stehen das strikte Festhalten von Finanzminister Lindner an der
Schuldenbremse und das Nein der FDP zu Steuererhöhungen entgegen.
Noch am Wahlabend bekräftigte der FDP-Chef stattdessen seine
Forderung nach einem «Update» für das Bürgergeld. Lösungen für
die
offenen Haushaltsfragen sind noch nicht in Sicht. Der 3. Juli soll
der Tag der Wahrheit werden. Dann soll das Kabinett den Haushalt
beschließen.

Söder: Noch keine Vorentscheidung der K-Frage

Die Neuwahl-Forderungen waren schon am Sonntagabend vor allem aus der
Union gekommen. CDU-Chef Friedrich Merz sagte am Montag, das Ergebnis
sei für die Parteien der Bundesregierung «ein komplettes Desaster».
Was das Ergebnis der Union von 30 Prozent angeht, stapelte er tief.
Dies sei «an der Untergrenze» dessen, was er erwartet habe und
Ansporn für weitere Herausforderungen. 

CSU-Chef Markus Söder betonte, dass mit dem Ergebnis die
Kanzlerkandidaten-Frage der Union noch nicht geklärt sei. «Nein, das
war keine Vorentscheidung. Kann es ja auch gar nicht sein
ehrlicherweise», sagte er dem Sender n-tv auf eine entsprechende
Frage. «Denn es muss zu dem Zeitpunkt, wenn eine Bundestagswahl ist,
die richtige Zeit für die Vorbereitung kommen.» So sei es vereinbart.
CDU-Chef Merz und er arbeiteten wirklich engstens zusammen.