Welche Rolle Tiktok beim AfD-Wahlerfolg in Ostdeutschland spielt Von Ann-Marie Utz, dpa

11.06.2024 06:00

Bei der Europawahl durfte erstmals ab 16 gewählt werden. Das Ergebnis
zeigt: Junge Menschen haben häufig AfD gewählt. Alles Einfluss der
Plattform Tiktok?

Greifswald (dpa/mv) - Kurze Videos, in denen Jugendliche zu
eindringlichen Musiktiteln Choreographien tanzen, folgen auf Clips
süßer Hundewelpen. Diese Vorstellung haben wohl viele Menschen, wenn
sie über die Videoplattform Tiktok nachdenken. Doch dort tummeln sich
nicht nur tanzende Teenager, sondern auch viele Politiker - und
AfD-Begeisterte. 

Vor allem in den ostdeutschen Bundesländern gewann die Alternative
für Deutschland bei der Europa- und Kommunalwahl am Sonntag hinzu -
auch in Mecklenburg-Vorpommern. 

16 Prozent der teilnehmenden 16- bis 24-Jährigen in Deutschland
wählten bei der Europawahl die AfD - damit satte elf Punkte mehr als
bei der vorangegangenen Europawahl (2019) in der Gruppe der jüngsten
Wähler (damals noch 18 bis 24 Jahre). 

Wie steht es um die Präsenz der Parteien in Mecklenburg-Vorpommern
auf der Plattform? Haben die Inhalte der Plattform politischen
Einfluss?

21 Millionen Menschen nutzen Tiktok in Deutschland

Tiktok ist eine der erfolgreichsten Online-Plattformen weltweit. «21
Millionen Menschen nutzen Tiktok in Deutschland täglich zwischen 60
und 90 Minuten», erklärt der Politikwissenschaftler Marcus Bösch von

der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. 

Der kürzlich veröffentlichten Studie «Jugend in Deutschland 2024»
zufolge informiert sich die Mehrheit (57 Prozent) der Jugendlichen
und jungen Erwachsenen über Nachrichten und Politik auf
Social-Media-Kanälen. Und wer nicht auf relevanten Plattformen aktiv
ist, wird der Studie zufolge von jungen Menschen schlichtweg nicht
zur Kenntnis genommen. Und die Bedeutung wächst: Inzwischen nutzen
mit 51 Prozent mehr als die Hälfte aller 14- bis 29-Jährigen die App
regelmäßig, vor einem Jahr waren es laut Studie noch 44 Prozent.

Etwa zehn Kanäle betreiben die Verbände und Abgeordneten der AfD nach
eigenen Angaben allein in Mecklenburg-Vorpommern. Auch die
Landtagsfraktionen von FDP, Grünen, SPD, Linken und CDU betreiben
nach dpa-Umfrage mittlerweile eigene Tiktok-Accounts. «Als
Landtagsfraktion ist es unser Ziel, mit allen Altersgruppen im
Gespräch zu bleiben und regelmäßig über unsere Arbeit im Parlament
zu
informieren», erklärt ein Sprecher der SPD-Landtagsfraktion. 

Die FDP-Landtagsfraktion startete ihren Kanal im März. Die Fraktion
der Linken bespielt seit Mitte 2023 ihren Account. Die CDU-Fraktion
MV hat bereits seit einigen Jahren einen Tiktok-Account, nutzte
diesen aber erst seit einigen Monaten verstärkt. 

«Ich habe seit Kurzem einen Kanal, erste Inhalte werden in den
nächsten Tagen produziert», heißt es vom stellvertretenden
Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Hannes Damm. 

Doch während die anderen Parteien, wenn überhaupt, nur ein paar
Hundert Follower bislang haben, folgen der AfD-Fraktion auf Tiktok
mehr als 15 400 Nutzer.

Die Landesverbände der meisten Parteien sind auf der Plattform nicht
präsent - weder von den Grünen, der FDP oder CDU. Der Landesverband
der SPD hat nur ein paar Dutzend Follower. Beim Landesverband der AfD
sieht das anders aus - über 20 000 Nutzer folgen dem Account.

Algorithmus bevorzugt emotional aufgeladene Inhalte

Doch warum sind AfD-Inhalte auf der Plattform so erfolgreich? «Der
Algorithmus von Tiktok bevorzugt kontroverse und emotional
aufgeladene Inhalte, die oft von rechten oder aber auch linken oder
religiös fundamentalistische Parteien und Bewegungen produziert
werden», erklärt der Politikwissenschaftler Julian Hohner von der
Universität München. Häufig werden laut Hohner Schwarz-Weiß-Bilder

gezeichnet, Furcht und Wut geschürt und komplexe Inhalte sehr
vereinfacht dargestellt. Da dies bei den Nutzern starke Reaktionen
hervorrufe, führe das zu einer höheren Interaktionsrate und werde
dadurch immer mehr Nutzern angezeigt. 

Junge Menschen seien anfällig für solche Inhalte, meint Hohner. Sie
seien oft noch in der Phase der Meinungsbildung und könnten daher
leichter durch eingängige, emotional ansprechende Inhalte beeinflusst
werden. Durch die hohen Aufrufzahlen entstehe außerdem der Eindruck,
radikale Botschaften seien in der Bevölkerung viel verbreiteter und
akzeptierter als sie es eigentlich sind.

Der AfD gelingt das laut Politikwissenschaftler Marcus Bösch etwa
durch provokante kurze Aussagen, die aus Parlamentsreden herausgelöst
auf der Plattform funktionieren. «Die AfD hat früher und intensiver
auf Tiktok gesetzt als andere Parteien und so mehr Erfahrungen auf
der Plattform gesammelt», erklärt Bösch. 

In Ostdeutschland gelinge es der Nachwuchsorganisation Alternative
Jugend außerdem, Akteure zu mobilisieren, die auf Tiktok ein
identifikationsspezifisches Angebot posten. «So werden bestimmte
Kleidungsmarken, Musiktitel und «völkische» Wanderungen verwendet und

dokumentiert», sagt Bösch.

Tiktok für den Wahlerfolg oder Misserfolg einer Partei verantwortlich
zu machen, gehe aber zu weit. Der Prozess der politischen
Willensbildung sei deutlich komplexer als das Betrachten eines
Wahlplakats, eines Wahlwerbespots oder eines Tiktok-Videos. 

Bösch sagt, es fehlten derzeit noch wissenschaftliche Untersuchungen
zum konkreten Einfluss der App auf Wahlentscheidungen. «Diese müssten
und sollten natürlich vor den Landtagswahlen im Herbst geplant und
durchgeführt werden.» Im September wird in Brandenburg, Thüringen und

Sachsen ein neuer Landtag gewählt. Die drei Wahlen stehen wegen der
Umfragehochs der AfD unter besonderer Beobachtung.