Kann uns Frankreich einfach den Strom abdrehen? Von Michael Evers und Marc Fleischmann, dpa

09.07.2024 07:30

In Frankreich erwägen Rechte und auch Linke, aus dem europäischen
Strommarkt auszusteigen. Muss sich Deutschland nun warm anziehen? Ein
Blick auf die Fakten führt zu Entwarnung.

Paris/Berlin (dpa) - Frankreichs extremer Rechter sind
Stromlieferungen ins europäische Ausland ein Dorn im Auge. Bedeutet
das Ergebnis der vorgezogenen Parlamentswahlen, bei der Rassemblement
National (RN) mit Marine Le Pen drittstärkste Kraft wurde, nun ein
Aufatmen? Immerhin sehen die Linken die Sache mit dem Ausstieg aus
dem europäischen Strommarkt ähnlich. Und mit La France Insoumise hat
gerade das neue Linksbündnis gewonnen. Deutschland wäre mit
Stromimporten direkt betroffen. Wie hoch sind diese? Und: Ist ein
Ausstieg Frankreichs überhaupt realistisch?

Behauptung

Frankreich kann Stromlieferungen nach Deutschland einstellen.

Bewertung

So einfach ist das nicht möglich.

Fakten

Hauptsorge der Menschen in Frankreich und damit wichtigstes Thema in
Wahlkämpfen ist derzeit die Kaufkraft. Le Pens Rechtsnationale aber
ebenso die Linkspartei La France Insoumise und die Kommunisten
fordern daher regelmäßig einen Ausstieg aus dem europäischen
Strommarkt und legen den Menschen nahe, Frankreich könne sich mit
seinem Atomstrom und einem selber festgelegten Tarif preiswerter
versorgen - die Menschen hätten also mehr Geld im Portemonnaie.

Le Pen hatte auch gewettert, die europaweit abgestimmten Strompreise
gingen zulasten von Frankreichs Industrie, die mehr bezahlen müsse,
weil Deutschland wegen seines Atomausstiegs vor Versorgungsproblemen
stehe. Aktuell fordert der Chef des Rassemblement National, Jordan
Bardella, für Frankreich eine Ausnahme von den europäischen Regeln
zur Festlegung der Energiepreise. Dies würde jedoch nicht bedeuten,
dass sich Frankreich von seinen europäischen Partnern abkoppelt.

Experten zu Frankreich: Beim Ausstieg steigt der Strompreis

Tatsächlich ist Frankreich nach Einschätzung von Experten, darunter
der Präsident des Energiekonzerns Engie, Jean-Pierre Clamadieu, und
der Wirtschaftsprofessor an der Universität Paris Dauphine, Patrice
Geoffron, auf den ständigen Austausch von Strom im europäischen Netz
angewiesen, auch wenn es unter dem Strich mehr exportiert als
importiert. Bei einem Ausstieg aus dem europäischen Strommarkt
drohten Stromausfälle und Frankreich müsste massiv in zusätzliche
Kraftwerke investieren, was den Strompreis in die Höhe treibe, sagen
Experten. Außerdem verdient Frankreich mit den Stromexporten tüchtig
Geld, es würde also wenig Sinn haben, diese zu kappen.

Eine Ausnahme von den europäischen Regeln zur Festlegung der
Energiepreise könnte Frankreich theoretisch mit der EU verhandeln;
für Portugal und Spanien gab es so eine Ausnahme während der
Energiekrise. Wegen der Bedeutung des europäischen Strommarkts für
Frankreich halten Experten sie aber für kontraproduktiv. Stiege
Frankreich komplett aus dem europäischen Strommarkt aus, bräche es
europäische Verträgen und Abmachungen. Praktisch wäre das eigentlich

nur möglich, wenn Frankreich europäische Abmachungen schlicht nicht
mehr umsetzt. Dies würde Strafmaßnahmen durch Brüssel nach sich
ziehen.

Beim europäischen Strommarkt heißt es Geben und Nehmen

Deutschland und auch Frankreich sind sogenannte Stromtransitländer
innerhalb der EU. Das bedeutet: Es wird fortlaufend Strom importiert
und exportiert und damit im Staatenbund dahin weitergereicht, wo er
benötigt wird. Der gemeinsame Strommarkt in Europa soll durch die
gewollte Zusammenarbeit mit den anderen Ländern ermöglichen, Geld
einzusparen und Emissionen zu senken.

Konkrete Zahlen für Deutschland: Den Daten des Fraunhofer-Instituts
für Solare Energiesysteme (ISE) zufolge lieferte Deutschland in
diesem Jahr bis zum 8. Juli rund 26,2 Terawattstunden (TWh) Strom an
andere europäische Staaten. Andererseits erhielt die Bundesrepublik
von ihren Nachbarn 38,3 TWh.

Zum Vergleich: Die öffentliche Nettostromerzeugung in Deutschland
(also ohne die Eigenversorgung der Industrie) liegt im selben
Zeitraum bei rund 234 TWh. Davon fallen im Saldo knapp fünf Prozent
auf Stromimporte.

Zwischen Frankreich und Deutschland geht es Hin und Her

Der Blick auf den Stromaustausch zwischen den Nachbarländern zeigt,
dass Deutschland 2024 bisher mehr Strom aus Frankreich importiert als
dorthin exportiert hat. Den Fraunhofer-Daten zufolge bekam
Deutschland bis zum 8. Juli 8,44 TWh aus Frankreich und lieferte
dorthin 1,62 TWh. Das macht Frankreich zu einem der größten, wenn
auch nicht dem größten Stromexporteur nach Deutschland im laufenden
Jahr. Knapp an der Spitze steht derzeit Dänemark mit 8,6 TWh, die zu
uns gekommen sind.

Dass es bei der deutsch-französischen Energiezusammenarbeit auch mal
andersherum gehen kann, zeigen Daten, die der Bundestag zitiert:
Zwischen Ende November 2022 und Ende November 2023 exportierte
Deutschland demnach 14,2 Terawattstunden Strom nach Frankreich und
bekam in umgekehrter Richtung 12 Terawattstunden.