Deutsch-niederländische Doppelstadt lebt Europa im Alltag Von Christoph Driessen und Oliver Berg , dpa

29.07.2024 06:30

Aus der Luft sehen Herzogenrath und Kerkrade aus wie eine einzige
Stadt. Aber mittendurch verläuft die deutsch-niederländische Grenze.
Die Einwohner haben sie allerdings fast unsichtbar gemacht.

Kerkrade/Herzogenrath (dpa) - Was ist das nur für eine Straße? Auf
der einen Seite hat sie nur ungerade Hausnummern, auf der anderen
gerade und ungerade. Auf der einen Seite haben die Fenster Gardinen,
auf der anderen nicht. Auf der einen Seite stehen Autos mit weißen
Kennzeichen vor der Tür, auf der anderen mit gelben. Auf der einen
Seite heißt sie Neustraße, auf der anderen Nieuwstraat. Des Rätsels
Lösung: In der Mitte der Straße verläuft die Grenze zwischen
Deutschland und den Niederlanden. Die eine Seite gehört zur Stadt
Herzogenrath, die andere zu Kerkrade.

«Da hinten auf der Verkehrsinsel ist noch ein kleines Mäuerchen, das
daran erinnert, dass es hier mal anders aussah», sagt Briefträger
Michael Hanek, der die Post auf der deutschen Seite austrägt. Früher
stand in der Mitte der Straße das sogenannte Berliner Mäuerchen. Nur
kniehoch war diese Grenzmarkierung, aber wer darüber sprang und dabei
erwischt wurde, musste offiziell 20 Mark Strafe zahlen. 

Wenn die deutsche Fußball-Nationalmannschaft und die Oranje-Elf
gegeneinander antraten, gab es an der Mauer manchmal Schlägereien
zwischen gegnerischen Fans, die eigens zum Randalieren angereist
waren. Herzogenrather und Kerkrader standen dann kopfschüttelnd in
sicherer Entfernung. Das ist nun schon eine ganze Weile her. Und das
Mäuerchen? Ist Geschichte. Irgendwann im Jahr 1993 ist ein Bautrupp
gekommen und hat es abgerissen. 

Fast jeder hat eine deutsche Großmutter

«Bis 1815 waren wir nicht getrennt, da war es eine gemeinsame Stadt»,
erzählt die Bürgermeisterin von Kerkrade, Petra Dassen, der Deutschen
Presse-Agentur. Bei einem «kopje koffie» sitzt die
christdemokratische Politikerin im Kerkrader Rathaus, das von außen
schmuck und alt aussieht und von innen hell und modern. «Aber dann
hat der Wiener Kongress die Grenze hier durchgezogen, und auf einmal
wurden Familien auseinandergerissen. Die eine Hälfte war plötzlich
niederländisch, die andere deutsch. Hier in Kerkrade gibt es heute
immer noch kaum einen Einwohner, der nicht irgendeine deutsche
Großmutter oder irgendeinen deutschen Großonkel hat.» 

Umgekehrt ist es ähnlich. «Ich habe unglaublich viele niederländische

Freunde», sagt der Bürgermeister von Herzogenrath, Benjamin Fadavian
(SPD). «Wir haben viele verwandtschaftliche Beziehungen, Ehen
zwischen Angehörigen beider Staaten - das ist bei uns Normalität.
Viele beherrschen beide Sprachen, identifizieren sich mit beiden
Ländern. Bei der Fußball-EM haben sie mit beiden Mannschaften
mitgefiebert. Ich zum Beispiel drücke den Deutschen und den
Niederländern die Daumen und freue mich über jeden niederländischen
Sieg.» Zuhause hat er immer Vla im Kühlschrank gebunkert, eine
niederländische Pudding-Spezialität.

Herrentoilette in Deutschland, Damentoilette in den Niederlanden

Schrittweise sind die beiden Städte in den vergangenen Jahrzehnten
immer weiter zusammengewachsen - und haben sich sogar einen
gemeinsamen Namen gegeben: Eurode. Die Feuerwehr hat eine
Schlauchkupplung entwickelt, die bei Löschfahrzeugen aus beiden
Ländern passt. Wer Mitglied der Kerkrader Stadtbücherei ist, kann
automatisch auch in Herzogenrath Bücher ausleihen und umgekehrt. Das
Eurode Business Center steht sogar mitten auf der Staatsgrenze: Die
Herrentoilette ist in Deutschland, die Damentoilette in den
Niederlanden. 

«Die Niederländer sind lockerer im Umgang, man sagt da sofort «du»
»,
erklärt Stephanie van den Berg-Thoennißen. Sie muss es wissen, denn
sie ist mit einem Niederländer verheiratet. Beruflich berät sie als
Angestellte der Stadt Herzogenrath Unternehmen, die im
deutsch-niederländischen Grenzraum aktiv sind. Ihr Schreibtisch im
Eurode Business Center grenzt direkt an den ihres niederländischen
Kollegen Cor Chudy von der Stadt Kerkrade. Der ist überzeugt: «Hier
bei uns wird die Europäische Union realisiert und nicht in Brüssel
oder irgendwo anders.»

Mit Corona war die Grenze plötzlich wieder da

Für viele der insgesamt knapp 100.000 Einwohner von Herzogenrath und
Kerkrade ist der gemeinsame Lebensraum mittlerweile so
selbstverständlich geworden, dass ihnen die Grenze kaum noch bewusst
ist. Wo genau sie verläuft, weiß im Einzelfall oft nur noch der
Lokalhistoriker Peter Dinninghoff, der zurzeit eine
niederländisch-deutsche Geschichtsmeile ausarbeitet. 

Es war deshalb eine brutale Erfahrung, als die Grenze vor vier Jahren
gleichsam über Nacht doch wieder da war - durch Corona. «Plötzlich
hieß es: Man darf nur noch mit einem wichtigen Anliegen rüber, zur
Arbeit oder mit Ausnahmegenehmigung», erinnert sich Stephanie van den
Berg-Thoennißen. 

Man benötigte einen negativen Corona-Test. In Kerkrade gab es aber
gar kein Testzentrum, sodass die Einwohner von Kerkrade erst einmal
in die nächstgrößere Stadt Maastricht fahren mussten, um sich testen

zu lassen. Das kostete jedes Mal 30 Euro. «Das war natürlich ein
unheimlicher Aufwand», erzählt van den Berg-Thoennißen. «Hier war e
in
Aufschrei, hier haben Leute weinend angerufen: «Ich kann meine Eltern
nicht mehr pflegen - ich muss über die Grenze.» Dann haben sich
unsere beiden Bürgermeister zusammengetan mit dem Ziel, ein
Testzentrum zu eröffnen, das auch für die Kerkrader zugänglich ist.
»
So ist es dann auch gekommen - auf dem Parkplatz des Eurode Business
Center. 

Große Pläne als europäisches Versuchslabor

Diese pragmatische Zusammenarbeit ist den Einwohnern hier «met de
paplepel ingegoten», wie die Niederländer sagen: Sie haben es mit der
Muttermilch eingesogen. Dennoch kämpfen beide Seiten auch mit einer
gewissen Frustration: «Wir stehen jetzt an dem Punkt, wo wir sagen:
Wir kommen nicht weiter», erklärt Bürgermeisterin Dassen. «Wir mach
en
natürlich mit Liebe und Einsatz das weiter, was wir schon haben, aber
wir kommen nicht den entscheidenden Schritt voran bei der Erreichung
der nächsthöheren Stufe der Integration. Zum Beispiel so, dass man
offiziell eine zweisprachige Kita einrichtet. Wir haben das
untersucht, aber es geht nicht, das lassen die nationalen Gesetze
nicht zu. Das hat mit Berufsabschlüssen zu tun.»

Deshalb haben sie und ihr deutscher Kollege Fadavian die Idee
entwickelt, bei der Europäischen Union den Status einer
grenzüberschreitenden europäischen Doppelstadt zu beantragen: «Sodass

man die nationalen Gesetze ein Stück weit außer Kraft setzt, um zu
testen: Funktioniert das?» Soweit sie weiß, wäre das die erste
Initiative dieser Art innerhalb der EU. 

«Unsere beiden Städte als europäisches Versuchslabor - das stellen
wir uns vor», skizziert Fadavian den Plan. Wenn das gelänge, würden
die beiden Städte am Rand ihrer jeweiligen Länder plötzlich in den
Mittelpunkt des Interesses gerückt. Dann wären sie europäische
Avantgarde. «Innerhalb der nächsten zwölf Monate wollen wir auf jeden

Fall etwas vorlegen», sagt Petra Dassen. «Und dann muss man sehen, ob
wir Erfolg haben.»