Steinmeier dankt Ungarn für Beitrag zur deutschen Einheit Von Ulrich Steinkohl, dpa
19.08.2024 16:20
35 Jahre ist die Flucht Hunderter DDR-Bürger über Ungarn her. Das
Loch im Eisernen Vorhang bereitete den Fall der Mauer mit vor. Dafür
kommt Dank von höchster Stelle, verbunden mit einer Mahnung.
Sopron (dpa) - Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat Ungarn für
seinen wichtigen Beitrag zur Überwindung der Teilung Europas und zur
Wiedervereinigung Deutschlands gedankt. In einer Pressekonferenz mit
Präsident Tamas Sulyok rief er das Land zugleich auf, seine aktuelle
EU-Ratspräsidentschaft zur Stärkung der Europäischen Union zu
nutzen.
Steinmeier nahm in der ungarisch-österreichischen Grenzstadt an der
Gedenkveranstaltung zum Paneuropäischen Picknick vor genau 35 Jahren
teil. Dieses hatten 600 bis 700 DDR-Bürger genutzt, um in den Westen
zu fliehen.
DDR-Bürger fliehen - «alles richtig gemacht»
Unter ihnen war auch Walter Sobel. Wenn er an den 19. August 1989
zurückdenkt, dann wird seine Stimme noch heute euphorisch. «Wir haben
alles richtig gemacht. Wir waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Und wir hatten Mut», sagt der 61-Jährige.
Für ihn, seine zwei Jahre jüngere Frau Simone und ihre beiden kleinen
Töchter änderte sich das Leben an jenem heißen Samstagnachmittag
grundlegend. Im ungarisch-österreichischen Grenzort Sopron ließen sie
die Unfreiheit der DDR hinter sich und nutzten eine sich unverhofft
auftuende Lücke im Eisernen Vorhang. Sie wurden Teil der größten
Massenflucht aus der DDR seit dem Bau der Mauer 1961, die dann nicht
einmal drei Monate später fiel.
35 Jahre nach diesem historischen Geschehen sind die Sobels als Gäste
Steinmeiers wieder in Sopron. «Es ist schon sehr bewegend», sagt
Walter Sobel vor dem Rathaus der Stadt.
Steinmeier dankt Ungarn
Die symbolische Grenzöffnung für drei Stunden am 19. August 1989 habe
de facto den ersten Riss im Eisernen Vorhang gebracht, der Europa so
lange geteilt habe, sagte Steinmeier in Sopron. Dieses Paneuropäische
Picknick sei ein «Meilenstein auf dem Weg zur deutschen
Wiedervereinigung» gewesen. «Deutschland wird den Menschen in Ungarn
immer dankbar sein für ihren Beitrag zu unserer Einheit. Und als
Bundespräsident sage ich aus vollem Herzen: Danke, liebe Ungarn.»
Europa verdanke seine Freiheit und Einheit auch dem Mut des
ungarischen Volkes, seiner Freiheitsliebe und Leidenschaft für
Europa. «Wir brauchen diese Leidenschaft für Europa auch heute»,
mahnte Steinmeier, ohne direkt auf den ungarischen
Ministerpräsidenten Viktor Orban einzugehen, der wegen seiner
Alleingänge in der EU umstritten ist und vielen als Bremser und
Quertreiber gilt.
Mahnende Worte an ungarische EU-Ratspräsidentschaft
Die Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit der EU müsse gerade
angesichts der neuen geopolitischen Herausforderung gewahrt werden,
sagte Steinmeier. «Mit seiner EU-Ratspräsidentschaft kommt Ungarn
dabei eine wichtige Rolle zu, die Einigkeit innerhalb der EU zu
stärken und bei unseren gemeinsamen Zukunftsthemen konstruktive und
gemeinsame Lösungen voranzubringen.» Deutschland hoffe wie alle
anderen EU-Mitglieder, «dass Ungarn diese Rolle annimmt und
ausfüllt».
Paneuropäisches Picknick als Fluchtchance
Eigentlich hätte der 19. August 1989 ganz anders verlaufen sollen.
Die Paneuropa-Bewegung Österreichs und das ungarische Demokratische
Forum hatten zu einem «Paneuropäischen Picknick» in Sopron
aufgerufen. Sie wollten so für den Abbau der Grenzen und für ein
geeintes Europa werben.
Damit die Menschen beider Länder gemeinsam feiern konnten, sollten
die Grenzanlagen symbolisch für drei Stunden geöffnet werden.
Löcherig waren sie zu diesem Zeitpunkt bereits. Die Grenze wurde aber
noch von Soldaten bewacht.
Für das Picknick wurde mit Flugblättern - inklusive Anfahrtsskizze -
geworben, sodass auch DDR-Bürger davon erfuhren, die in Ungarn Urlaub
machten. Hunderte von ihnen setzten sich schließlich nach Österreich
ab. Die ungarischen Grenzsoldaten schritten nicht ein. Zurück blieb
eine lange Schlange von Autos der Geflohenen.
Zwei Fluchtversuche scheitern
Darunter war auch der Lada der Familie Sobel. Zweimal versuchte die
Familie im August 1989 zunächst die Flucht von Ungarn über
Jugoslawien in den Westen, zweimal wurde sie gefasst und
zurückgewiesen. Eigentlich wollte sie schon aufgeben. Doch Simone
Sobel schaute nochmals in den Atlas nach einem möglichen anderen
Fluchtweg. Ihr Finger tippte auf Sopron. «Das war Schicksal», sagt
sie.
«Dann waren wir drüben»
In Sopron erfuhren auch die Sobels von der sich möglicherweise
bietenden Chance zur Flucht. «Füße in die Hand genommen und gelaufen.
Dann waren wir drüben», erinnert sich ihr Mann heute an den
entscheidenden Moment damals. «Ich sage Ungarn einfach nur danke»,
sagt seine Frau Simone.