Von der Leyen droht Scheitern beim Geschlechterziel Von Ansgar Haase, dpa
30.08.2024 04:10
Ursula von der Leyen will in ihrem neuen Team eigentlich nicht
weniger Frauen als Männer haben. Die entscheidenden Regierungen der
Mitgliedstaaten spielen allerdings nicht mit.
Brüssel (dpa) - EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen droht
wegen mangelnder Kooperation von Mitgliedstaaten ein Scheitern ihrer
Pläne für ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis in ihrem neuen
Führungsteam. Kurz vor dem Ablauf einer Nominierungsfrist an diesem
Freitag haben nach Recherchen der Deutschen Presse-Agentur deutlich
mehr als die Hälfte der Regierungen lediglich einen männlichen
Kandidaten für das Kollegium der Kommissare vorgeschlagen. Dieses
soll wie bisher aus 27 Mitgliedern bestehen, wobei jeder
Mitgliedstaat ein Kommissionsmitglied benennen darf und von der Leyen
und die bereits nominierte Außenbeauftragte Kaja Kallas mitgezählt
werden.
Wenn sich an den Nominierungen nicht mehr viel ändert, könnte das
neue Kollegium am Ende zu rund zwei Dritteln aus Männern bestehen.
Derzeit sind immerhin 12 der 27 Kommissionsmitglieder weiblich. Der
Führung der EU-Kommission sind rund 32.000 Mitarbeiter unterstellt,
die unter anderem Vorschläge für neue EU-Gesetze machen und die
Wahrung der Europäischen Verträge überwachen.
Hauptstädte ignorieren Wunsch der Deutschen
Die im Juli wiedergewählte Präsidentin von der Leyen hatte die
Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten eigentlich darum gebeten,
sowohl einen Mann als auch eine Frau zu nominieren, um ein
ausgeglichenes Geschlechtergleichgewicht in der Kommission zu
ermöglichen. Ausgenommen von dieser Bitte waren eigentlich nur
diejenigen Regierungen, die einen derzeit amtierenden Kommissar
erneut nominieren.
Dies haben beispielsweise Frankreich, Ungarn und Lettland gemacht. So
schickt Paris den derzeitigen Binnenmarktkommissar Thierry Breton ins
Rennen, Ungarn Erweiterungskommissar Oliver Varhelyi und Lettland den
derzeit für Handelsfragen zuständigen Valdis Dombrovskis.
Zuletzt kündigte beispielsweise Dänemark an, den bisherigen Minister
für Entwicklungszusammenarbeit, Dan Jørgensen, als neuen dänischen
EU-Kommissar nach Brüssel schicken zu wollen. Ministerpräsidentin
Mette Frederiksen erklärte dazu, man müsse sich nicht dafür schämen
,
nicht auch noch eine Frau nominiert zu haben. Dänemark sei viele
Jahre lang von Margrethe Vestager in der Kommission vertreten
worden.
Geschlechtergleichgewicht kann nicht eingeklagt werden
Für von der Leyen ist das Verhalten der Mitgliedstaaten ärgerlich,
ihr sind aber letztlich die Hände gebunden. Grund ist, dass die
Regierungen rechtlich nicht verpflichtet sind, ihrer Aufforderung
Folge zu leisten, sowohl einen Mann als auch eine Frau zu nominieren.
Im EU-Vertrag ist lediglich festgehalten, dass in der Kommission
«das demografische und geografische Spektrum der Gesamtheit der
Mitgliedstaaten» zum Ausdruck kommen soll. Von Geschlechterparität
ist explizit nicht die Rede.
Die Auswahl von Kommissarinnen und Kommissaren für die neue
EU-Kommission ist der letzte große Schritt zur Neubesetzung von
politischen Spitzenpositionen nach der Europawahl im Juni. Von der
Leyen selbst war bereits kurz danach von den Staats- und
Regierungschef der EU-Staaten für eine zweite Amtszeit als
Präsidentin der mächtigen Behörde nominiert und vom Europaparlament
gewählt worden. Sie muss nun die Nominierungen der Regierungen für
die Kommissarsposten entgegennehmen und dann eine Aufgabenverteilung
vornehmen.
Theoretisch kann sie so auch noch Druck auf Mitgliedstaaten ausüben,
doch noch eine Frau zu nominieren. Denn auch wenn die
Kommissionsmitglieder ihre Aufgaben unabhängig von der Politik ihrer
Heimatländer ausüben müssen, haben Regierungen in der Regel ein
Interesse daran, mit ihrem Kandidaten ein wichtiges Ressort zu
besetzen. Als besonders einflussreich gelten etwa die für Finanzen,
Wirtschaft und Wettbewerb zuständigen Kommissionsvertreter.
Mögliche Angebote an Mitgliedstaaten
Die Zeitung «Times of Malta» berichtete so diese Woche, dass von der
Leyen Malta vorgeschlagen habe, statt dem früheren Bürochef des
Regierungschefs die aktuelle maltesische Kommissarin Helena Dalli
erneut zu nominieren. Im Gegenzug könnte diese ein attraktiveres
Ressort bekommen, als es Glenn Micallef bekommen würde.
Von der Leyen selbst will sich zu Details des laufenden
Auswahlverfahrens vorerst nicht äußern. Ihre Sprecher lassen
lediglich wissen, dass die frühere deutsche Verteidigungsministerin
mit den nominierten Personen Gespräche führe und den Auserwählten
dann vermutlich bis zum 11. September Aufgabenbereiche zuordnen
werde. Erstmals soll es beispielsweise auch Kommissare für Themen wie
Verteidigung und Wohnen geben.
Droht ein Reputationsschaden?
Der italienische EU-Recht-Experte Alberto Alemanno warnte zuletzt,
dass ein von Männern dominiertes Kollegium eine Schwächung der
Autorität der Präsidentin der EU-Kommission bedeuten würde. Er rief
von der Leyen auf, den nationalen Hauptstädten ihre Unzufriedenheit
deutlich zu machen und sie zu bitten, schnellstmöglich eine neue
Kandidatenliste aufzustellen, um ihren eigenen Reputationsschaden und
den der gesamten EU zu begrenzen.
Nach Einschätzung des Professors könnte es sonst auch dazu kommen,
dass schwache männliche Kommissarsanwärter im Europäischen Parlament
nicht notwendige Zustimmung bekommen. Das hätte zur Folge, dass die
Regierungen, die sie nominiert haben, einen neuen Kandidaten oder
eine neue Kandidatin benennen müssten. Der Beginn der Amtszeit der
neuen Kommission könnte sich dann in einer geopolitischen wichtigen
Zeit hinauszögern. Eigentlich soll das neue Team von Ursula von der
Leyen zum 1. November seine Arbeit aufnehmen - also kurz vor der
Präsidentschaftswahl in den USA.