Kurs Wiederannäherung? Brexit sorgt weiter für Probleme Von Benedikt von Imhoff und Marek Majewsky, dpa

26.12.2024 03:01

Von der neuen britischen Regierung erhofft sich die EU Fortschritte.
Tatsächlich hat sich das Verhältnis verbessert. Aber viel Spielraum
gibt es nicht.

Brüssel/London (dpa) - Mit einer wahren Charmeoffensive bemüht sich
der britische Premierminister Keir Starmer seit seinem Amtsantritt um
gute Beziehungen mit der EU. Von «Neuanfang» ist viel die Rede,
nachdem unter der konservativen Vorgängerregierung die Stimmung oft
frostig war. Die ersten Ziele des neuen Regierungschefs waren nun
Berlin, Paris und Brüssel. 

Dort stößt Starmer durchaus auf Gegenliebe. Für das neue Jahr lud
EU-Ratspräsident António Costa den Premier bereits zum inoffiziellen
Treffen der Regierungschefs ein. Mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula
von der Leyen plant Starmer regelmäßige Spitzentreffen. «Lieber Keir,

in diesen sehr unsicheren Zeiten müssen gleichgesinnte Partner wie
wir enger zusammenarbeiten», sagte von der Leyen bei einem Besuch
Anfang Oktober.

Neue Vereinbarungen sind absehbar. Zum Beispiel dürfte es Einigkeit
geben bei einem sogenannten SPS-Abkommen, das Kontrollen von
Lebensmitteln sowie von lebenden Tieren, Futtermitteln, Pflanzen oder
Saatgut erleichtern würde. Auch in der Rüstungszusammenarbeit und
Verteidigung rücken die beiden Partner enger zusammen, mit
Deutschland schloss Großbritannien bereits ein entsprechendes
Abkommen.

Groß sind vor allem von britischer Seite die Erwartungen an eine
Überprüfung des Handelsabkommens, das Brüssel und London an
Weihnachten 2020 geschlossen hatten. Doch die EU bremst: Wirklich
einschneidende Veränderungen werde es nicht geben, der Vertrag werde
nicht wieder aufgemacht, sagt jemand, der Einblicke in die Gespräche
hat.

Starmers rote Linien

Fraglich ist ohnehin, wie viel Spielraum es gibt. Denn Starmer hat
mehrere rote Linien gezogen: keine Rückkehr in den EU-Binnenmarkt und
die Zollunion, die Großbritannien vor vier Jahren, am 1. Januar 2021,
verließ. Und auch kein gemeinsames Programm für einen Austausch
junger Menschen, wie es die EU fordert. Damit könnten 18- bis
30-Jährige in der EU beziehungsweise in Großbritannien visafrei bis
zu zwei Jahre studieren oder arbeiten.

Bildungsaustausch im Rückgang

Den zwischenmenschlichen Bereich traf der Brexit besonders hart. Die
Zahl deutscher Studierender im Vereinigten Königreich nimmt seither
kontinuierlich ab. Nach Angaben der britischen Higher Education
Statistics Agency lag die Zahl der Studentinnen und Studenten
zwischen 2016 und 2019 noch relativ konstant bei knapp 14.000. Seit
dem Brexit ist sie kontinuierlich auf 8.240 im Zeitraum 2022/2023
geschrumpft. 

Dabei hatte Corona nach Angaben des Deutschen Akademischen
Austauschdienstes (DAAD) nur einen geringen Anteil. «Die starken
Rückgänge seit 2020/2021 haben mit der Umsetzung des Brexits ab
1.1.2020 und den deutlich gestiegenen Studiengebühren für
Ausländerinnen und Ausländer sowie Visa-Regelungen zu tun», heißt e
s
auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur. 

Oft mehr als 20.000 Euro für ein Jahr Schüleraustausch

Schüleraustausche haben sich laut einer Stichprobe des AJA
Arbeitskreises gemeinnütziger Jugendaustausch verschoben. Den Zahlen
der im AJA vertreten Organisationen zufolge machen deutlich mehr
Schülerinnen und Schüler statt einjähriger nur noch halbjährige
Aufenthalte im Vereinigten Königreich. «Ein ganzjähriger
Schüleraustausch kostet nun häufig über 20.000 Euro», heißt es.
 

Der AJA fordert unter anderem Visafreiheit.
«Schüleraustauschprogramme sind Bildungsprogramme. Sie dienen neben
der persönlichen Entwicklung immer auch der Verständigung zwischen
Gesellschaften und Nationen», sagte AJA -Geschäftsführer Jan Schütt
e
der dpa. 

Um den akademischen Austausch zu verbessern, wünscht sich der DAAD,
dass die Briten wieder Teil des Erasmus-Programms werden. Zudem müsse
es bessere Möglichkeiten für Austauschstudierende geben, Praktika zu
machen. Kurzfristig ist das nicht zu erwarten. Die Kommission teilte
dazu mit: «Bislang hat das Vereinigte Königreich kein Interesse an
einer erneuten Teilnahme an Erasmus+ bekundet.»

Mehr Mobilität auch für die Wirtschaft wichtig 

Auch der Wirtschaft ist die Freizügigkeit ein Anliegen. «Ein
besonderer Herzenswunsch zu Weihnachten wären ernsthafte Änderungen
beim Thema Immigration», sagt York-Alexander von Massenbach von der
Britischen Handelskammer in Deutschland (BCCG) der dpa. Dazu gehöre,
Visaverfahren für qualifizierte Arbeitskräfte zu vereinfachen,
Berufsqualifikationen anzuerkennen sowie die Freizügigkeit von
Fachkräften zu verbessern.

Absehbar ist auch dies nicht. «Ich habe von Anfang an klargestellt,
dass die Freizügigkeit für uns eine rote Linie ist und wir keine
Pläne in Bezug auf die Freizügigkeit auf irgendeiner Ebene haben»,
sagte Starmer jüngst der Zeitung «Sun».

Bedeutende Schritte der Wiederannäherung unwahrscheinlich

Diese Haltung stößt auf Unverständnis. In Interviews mit britischen
Medien betont etwa der deutsche Botschafter Miguel Berger regelmäßig,
ein «Youth Mobility Scheme» bedeute - anders als in London behauptet
- keine unerwünschte Migration durch die Hintertür und biete vielmehr
Vorteile für alle Seiten. Auch der britische Handelskammerverbund
fordert ein Einlenken - und ein Dutzend weiterer Maßnahmen, um durch
den Brexit entstandene Bürokratie abzubauen.

Dass dem positiven Ton auch bedeutende Schritte einer
Wiederannäherung nach dem historischen Bruch des Brexits folgen, ist
also kaum zu erwarten. Als zu groß gilt dafür auch die Furcht
Starmers und seiner sozialdemokratischen Labour-Partei vor
lautstarken Hardlinern wie der rechtspopulistischen Partei Reform UK
um Nigel Farage. Der Brexit-Vorkämpfer rühmt sich enger Bande zum
künftigen US-Präsidenten Donald Trump und dessen Verbündeten Elon
Musk - der sich derzeit lautstark in die britische Politik einmischt
und Reform mit Millionen unterstützen könnte.