«Bregret» statt Brexit - Großbritannien fünf Jahre danach Jan Mies, dpa
30.01.2025 11:01
Großbritannien gehört seit einem halben Jahrzehnt nicht mehr zur
Europäischen Union. Von den großen Versprechen ist nicht mehr viel
übrig. Eine Umfrage zeigt ein deutliches Meinungsbild.
London (dpa) - Nur ein paar Meter vom britischen Parlament entfernt
demonstrieren regelmäßig ein paar Unermüdliche. Mit großen EU-Fahne
n
und Bannern werben sie für den schnellen Wiedereintritt in die
Europäische Union. Manchmal wird dazu gesungen, zu lesen ist: «Wir
sind immer noch hier, weil der Brexit immer noch Mist ist.»
Das mag wie ein kleiner, trauriger Protest vor den Tausenden
Touristen auch aus Deutschland wirken, die jeden Tag nach Westminster
pilgern. Es ist fünf Jahre nach der historischen Abspaltung aber
längst die Mehrheitsmeinung.
In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov gaben im
Januar 55 Prozent der befragten Erwachsenen an, es sei falsch
gewesen, für den EU-Austritt zu stimmen, nur 30 Prozent halten den
Schritt immer noch für eine gute Idee. Die Wortschöpfung «Bregret»
aus Brexit und «regret» (bedauern, bereuen), erfreut sich großer
Beliebtheit.
An diesem Freitag jährt sich der schicksalhafte Schritt der
britischen Regierung, der jahrelange Verhandlungen und Proteste
vorausgingen, zum fünften Mal. Kaum jemand zieht ein positives Fazit.
«Die Brexit-Befürworter versprachen ein neues Zeitalter», schreibt
die Zeitung «Independent». Ein halbes Jahrzehnt später sei das Ziel
in vielen Bereichen aber verfehlt.
Britische Wirtschaft fährt mit «plattem Reifen»
Der Auswertung «The Brexit Files: from referendum to reset» zufolge
hat sich die Einschätzung bestätigt, dass der Brexit wirtschaftlich
eine Art «platten Reifen» für Großbritannien bedeuten würde, wenn
auch keinen Autounfall. Einer anderen Studie aus dem vergangenen
September zufolge leidet insbesondere der Außenhandel mit der EU
immer stärker. Im- und Exporte seien stark eingebrochen, heißt es in
dem Bericht der Aston University in Birmingham.
Zwischen 2021 und 2023 - den Jahren unmittelbar nach dem britischen
Austritt aus der EU-Zollunion und dem Binnenmarkt - sank der Wert der
britischen Warenexporte in die EU demnach um 27 Prozent, der Wert der
Importe um 32 Prozent. In jedes EU-Land wurden 1.645 Arten britischer
Produkte weniger exportiert. Dies traf kleinere EU-Volkswirtschaften
stärker als größere wie Deutschland.
Der lahmende Handel hat für die Briten Folgen im Alltag - Vieles ist
schlicht teurer. Ein Beispiel: Vor Weihnachten berichtete der
«Guardian» von inzwischen nötigen zusätzlichen Bescheinigungen fü
r
die Einfuhr von Weihnachtsbäumen. Ein niederländischer Händler
berichtete vom Rechnungsposten «Brexit-Kosten». Diese spürt am Ende
auch der Kunde.
Migrationsdebatte hält bis heute an
Ein, wenn nicht der, zentrale Faktor in der jahrelangen
Brexit-Debatte war die Zuwanderung nach Großbritannien. Zum einen
wegen der Sorgen vor einem Arbeitskräftemangel, zum anderen wegen der
Stimmungsmache von Rechtspopulisten gegen Einwanderer. Die
Konservativen versprachen, durch den EU-Austritt würden die Grenzen
dicht sein, die Migrationszahlen sinken. Eingetroffen ist das
Gegenteil.
Zwar sank die Migration aus der EU nach Großbritannien, die
Nettozuwanderung (Einwanderung minus Auswanderung) aus
Nicht-EU-Ländern erreichte aber Rekordhöhen. «In der Praxis bedeutete
dies, dass viele der arbeitsintensiven Niedriglohnbranchen, die mit
einem Rückgang des Migrantenanteils gerechnet hatten, stattdessen
Zuwächse verzeichneten», steht in «The Brexit Files».
Ende 2023 erließ die damalige konservative Regierung erneut neue
Regeln und Beschränkungen, um die Migration zu reduzieren.
Pflegekräfte und Menschen, die zum Studieren kommen, können
beispielsweise ihre Partner oder Kinder nicht mehr ohne Weiteres mit
nach Großbritannien bringen. Die seit Sommer regierende Labour-Partei
von Premierminister Keir Starmer hat einen «umfassenden Plan» zum
Umgang mit der Migration angekündigt.
Einfluss auf europäischer Bühne
Starmer war zuletzt mehrere Schritte auf die EU zugegangen, von einem
Neuanfang in den Beziehungen ist die Rede. Die Verbindungen zu den
«europäischen Freunden» müssten vertieft werden, steht im
Parteiprogramm. «Mit Labour wird Großbritannien außerhalb der EU
bleiben. Aber um die Chancen, die vor uns liegen, zu nutzen, müssen
wir den Brexit zum Erfolg führen.»
Kritikern geht die Wiederannäherung jedoch viel zu zaghaft voran,
zumal Starmer über eine erhebliche Mehrheit im Parlament verfügt. Das
renommierte Magazin «Economist» forderte den Premier in seiner
jüngsten Ausgabe auf, über eine Rückkehr in Binnenmarkt und Zollunion
oder zumindest über eine Angleichung bei Produktstandards
nachzudenken.
Immerhin, in der Rüstungszusammenarbeit und Verteidigung rücken beide
Partner enger zusammen, mit Deutschland schloss Großbritannien
bereits ein entsprechendes Abkommen. Nach Zwischenfällen mit
russischen Schiffen in der Ostsee und zuletzt im Ärmelkanal sowie
mutmaßlicher Sabotage an Unterseekabeln sieht sich Großbritannien in
einer führenden Nato-Rolle.
Mit Deutschland ist Starmer um ein harmonisches Verhältnis bemüht,
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach beim Besuch des Premiers im
vergangenen Jahr von einer «ausgestreckten Hand». Die reichte der
Labour-Chef aber auch in andere Richtungen - Großbritannien strebt
ein gutes Verhältnis zu US-Präsident Donald Trump an, der extrem
kritisch auf die EU und die Nato blickt.