«Am Scheideweg»: Europa stellt sich hinter Selenskyj Christoph Meyer und Jan Mies, dpa
02.03.2025 19:42
Nach dem Eklat im Weißen Haus wollen London und Paris mit einer
«Koalition der Willigen» vorangehen, um eine Waffenruhe in der
Ukraine auf den Weg zu bringen. Welche Rolle kann Berlin spielen?
London (dpa) - Der britische Premier Keir Starmer nahm den
ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj demonstrativ an seine
Seite: «Wir alle stehen euch bei», sagte der Gastgeber während eines
Gipfels westlicher Staats- und Regierungschefs zwei Tage nach dem
beispiellosen Zerwürfnis zwischen US-Präsident Donald Trump und
Selenskyj. Der Beschluss: Ein neuer Friedensplan für eine Waffenruhe
in der Ukraine soll erst einmal ohne die USA entwickelt werden.
«Wir haben vereinbart, dass das Vereinigte Königreich, Frankreich und
andere mit der Ukraine an einem Plan zur Beendigung der Kämpfe
arbeiten werden», sagte Starmer nach dem Spitzentreffen. «Dann werden
wir diesen Plan mit den Vereinigten Staaten erörtern und ihn
gemeinsam vorantreiben.»
Großbritannien und Frankreich hatten bereits mehrfach ihre
Bereitschaft signalisiert, Soldaten für eine Friedenstruppe
bereitzustellen. Auf die Frage, welchen Beitrag Deutschland leisten
werde, äußerte sich Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz nach den
Beratungen ausweichend. Die Ukraine müsse militärisch so stark
werden, dass sie nicht erneut angegriffen werde, sagte der
SPD-Politiker. «Das wird für die Zukunft von zentraler Bedeutung
sein.»
«An einem Scheideweg» - EU-Sondergipfel am Donnerstag
Starmer warnte eindringlich, Europa stünde «an einem Scheideweg» der
Geschichte. Es sei an der Zeit zu handeln, Verantwortung zu
übernehmen und Führung zu zeigen. Zugleich betonte der Premier die
Bedeutung, weiterhin den Rückhalt der USA zu haben. Selenskyj war von
Starmer in London herzlich empfangen worden. Der Ukrainer traf auch
den britischen König Charles III.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mahnte eine Stärkung
militärischer Kapazitäten in der EU an. «Wir müssen Europa dringend
aufrüsten», sagte von der Leyen. Deshalb wolle sie den Staats- und
Regierungschefs bei einem Sondergipfel am Donnerstag in Brüssel einen
umfassenden Plan für die Wiederaufrüstung Europas vorlegen.
Auf die Frage nach ihrer Botschaft an die USA antwortete von der
Leyen: «Wir sind bereit, gemeinsam mit ihnen die Demokratie und den
Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen, dass man nicht
einmarschieren und seinen Nachbarn schikanieren oder Grenzen mit
Gewalt verändern kann.» Es liege im gemeinsamen Interesse, künftige
Kriege zu verhindern, dass man deutlich mache, dass diese Regeln
zählen und die Demokratien gemeinsam dafür eintreten würden.
Scholz rief dazu auf, Russlands Perspektive nicht zu akzeptieren. «Es
ging Russland immer darum, in der Ukraine eine Regierung zu
etablieren, die nach russischer Pfeife tanzt, das kann nicht
akzeptiert werden», sagte Scholz. Die Ukraine sei ein europäisches
Land, das sich entschieden habe, in die Europäische Union zu wollen
und sei eine demokratische und souveräne Nation. «Dabei muss es
bleiben», sagte Scholz.
Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die über gute Kontakte
ins Trump-Lager verfügt, mahnte nach dem Treffen zum Zusammenhalt.
«Wir müssen in dieser Phase tapfer sein, um den Westen nicht zu
spalten. Denn das wäre fatal für alle.»
Der Eklat im Oval Office
Das Spitzentreffen im Lancaster House war zunächst nur als eines von
mehreren zum Ukraine-Krieg geplant. Doch durch den Eklat in
Washington am Freitag wurde die Lage besonders brisant. Trump und
sein Vize J.D. Vance hatten Selenskyj vor der Weltöffentlichkeit
scharf zurechtgewiesen und mit schweren Vorwürfen überzogen. Die
Gespräche wurden abgebrochen, Selenskyj verließ das Weiße Haus
vorzeitig.
«Das will niemand sehen», sagte Starmer zu den Bildern aus den USA.
Deswegen habe er den Hörer in die Hand genommen und mit den
Beteiligten gesprochen. «Mein Antrieb war, dies gewissermaßen zu
überbrücken und uns wieder auf den zentralen Fokus zurückzuführen
»,
sagte Starmer.
Der Premier will konkrete Sicherheitsgarantien für die Ukraine auf
den Weg bringen. Ein mögliches Waffenstillstandsabkommen dürfe kein
Papiertiger sein, sondern müsse notfalls militärisch gewährleistet
werden können. «Wir werden weiter eine Koalition der Willigen
entwickeln, um ein Abkommen in der Ukraine zu verteidigen und den
Frieden zu garantieren», sagte Starmer. «Nicht jede Nation wird sich
in der Lage fühlen, dazu beizutragen, aber das darf nicht bedeuten,
dass wir uns zurücklehnen.»
USA wollen keine Absicherung zusagen
Zu einer Zusage für Sicherheitsgarantien hatte sich Trump bislang
trotz aller Charmeoffensiven Starmers und des französischen
Präsidenten Emmanuel Macron bei Besuchen in Washington nicht bewegen
lassen. Stattdessen erklärte Trump mehrfach, ein geplanter
Rohstoffdeal mit der Ukraine würde dazu führen, dass die USA in der
Ukraine vor Ort sein würden, aber nicht militärisch. Das sei genug an
Sicherheitsgarantie. Durch den Eklat kam der Deal nicht zustande.
«Wir stimmen mit dem Präsidenten überein, dass es einen dringenden
Bedarf für einen dauerhaften Frieden gibt. Jetzt müssen wir gemeinsam
handeln», sagte Starmer. Trump meldete sich am Wochenende nicht mehr
zur Ukraine-Frage zu Wort, er war nach dem Schlagabtausch mit
Selenskyj noch am Freitag nach Florida geflogen.
London will ukrainische Flugabwehr weiter stärken
Die Ukraine wehrt sich inzwischen seit drei Jahren mit westlicher
Unterstützung gegen einen vom russischen Präsidenten Wladimir Putin
befohlenen Angriffskrieg.
Großbritannien stellt der Ukraine weitere Militärhilfe zur Verfügung:
Die Ukraine erhalte 1,6 Milliarden Pfund (rund 1,9 Milliarden Euro)
aus der Exportfinanzierung des Vereinigten Königreichs, um damit mehr
als 5.000 Flugabwehrraketen vom Typ LMM zu kaufen, die in der
nordirischen Stadt Belfast hergestellt werden, wie Starmer
ankündigte.