Selenskyj in London: Warmer Empfang für den Angegriffenen Von Jan Mies, Ulf Mauder, Andreas Stein und Christoph Meyer, dpa
02.03.2025 19:56
Nach der Ankunft in London ist der ukrainische Präsident Wolodymyr
Selenskyj zu Gast bei Freunden. Der Kontrast zu den Stunden zuvor in
Washington könnte kaum größer sein.
London (dpa) - Wolodymyr Selenskyj saß in einem weißen, gemütlichen
Sessel vor dem Kamin und lächelte. «Vielen, vielen Dank, Keir», sagte
der ukrainische Präsident zum britischen Premierminister Keir
Starmer, und es wirkte so, als wolle er seinen Gastgeber wie schon
bei der Ankunft in der 10 Downing Street nochmals umarmen. Keine 24
Stunden nach dem beispiellosen Zerwürfnis mit US-Präsident Donald
Trump im Weißen Haus war Selenskyj plötzlich wieder zu Gast bei
Freunden.
Der Kontrast, den der Ukrainer erlebte, hätte kaum größer sein
können. Am Sonntagabend wurde Selenskyj zur Krönung der
Herzlichkeiten vom britischen König Charles III. empfangen. Fotos
zeigen beide lächelnd nebeneinander auf dem Landsitz Sandringham.
Zuvor hatte der ukrainische Präsident von den westlichen Staats- und
Regierungschefs bei einem Gipfeltreffen in London große Unterstützung
zugesichert bekommen. Aus Großbritannien fließen weitere
Milliardenhilfen an das kriegsgebeutelte Land. Am Freitag war
Selenskyj dagegen von Trump mit Vorwürfen überzogen worden. Einer
lautete, er riskiere einen Dritten Weltkrieg.
Die Frage nach dem Anzug
Bei der Begrüßung mit Starmer in London am Samstag vor der berühmten
schwarzen Tür im Herzen Londons waren für die Ukraine jubelnde
Menschen zu hören. Wieder trug Selenskyj seinen dunklen Pullover. Er
blieb bei jenem Stil, mit dem er seit dem russischen Angriff vor drei
Jahren um die Welt reist und um Unterstützung bittet.
Von Trump war er am Freitag vor der Tür des Weißen Hauses mit den
Worten empfangen worden: «You're all dressed up today.» Selenskyj
habe sich ganz schön herausgeputzt. Das war kein Kompliment.
Selenskyjs Kanzleichef Andrij Jermak trat für Trump seit langem
erstmals wieder im Anzug auf.
Die Frage eines Trump verbundenen Reporters anschließend im Oval
Office, ob Selenskyj denn keinen Anzug habe, ging am Wochenende in
kurzen Internetclips um die Welt. Selenskyjs Antwort wirkte zunächst
noch souverän. Wenn der Krieg vorbei sei, trage er wieder einen
Anzug, vielleicht einen teureren als der Journalist, vielleicht einen
billigeren. Dann folgte die beispiellose Zurechtweisung durch Trump
und dessen Vice J.D. Vance in deren heiligem Präsidentenzimmer.
Selenskyj setzt weiter auf Rückhalt in der Ukraine
In der Ukraine wurde das Zerwürfnis vor allem von Ängsten begleitet,
die US-Hilfe könnte komplett wegbrechen und den Weg freimachen für
einen Sieg der Russen. Das will Selenskyj unter allen Umständen
verhindern.
Seine Beliebtheitswerte waren nach der Wahl 2019 sehr hoch, fielen
aber schon nach den ersten Amtsjahren drastisch. Erst der
Kriegsbeginn, als er - anders als von vielen erwartet - nicht mit
seiner Frau Oleana und den beiden Kindern die Flucht ergriff, sondern
Kremlchef Wladimir Putin den Kampf ansagte, brachte seine
Zustimmungswerte auf neue Höchstwerte.
Der 47-jährige Selenskyj, ein ehemaliger Schauspieler und Komiker,
der die meiste Zeit seines Lebens seine Muttersprache Russisch
sprach, verweist selbst immer wieder auf einen starken Rückhalt in
der Bevölkerung. Ein präsidentennahes Meinungsforschungsinstitut
erklärte im Februar mit Blick auf Umfragen, dass Selenskyj bei über
der Hälfte der Ukrainer Vertrauen genieße. Das seinem Widersacher und
Amtsvorgänger Petro Poroschenko nahestehende Socis-Institut
ermittelte dagegen, dass Selenskyj gut 16 Prozent der Ukrainer weiter
wählen würden - weniger als Ex-Armeechef Walerij Saluschnyj, der auf
27,2 Prozent kam.
Kritiker sehen das Land auf einem falschen Weg, manche werfen
Selenskyj gar autoritäre Züge vor. Einige sitzen im Gefängnis, andere
sind ins Ausland geflüchtet, wieder andere schweigen öffentlich. Im
Zuge des geltenden Kriegsrechts brachte er den Großteil der Medien
auf seine Linie.
Einen Rücktritt - wie etwa in den USA gefordert - lehnt der Präsident
ab. Er betont, dass darüber nur das ukrainische Volk entscheiden
könne. Und das stehe fest an seiner Seite.