Nuklearer Schutzschirm: Scholz lässt Macron abblitzen Von Michael Fischer, Katharina Redanz, Stella Venohr, Marek Majewsky, Sarah Knorr, Jan Freybott, dpa
06.03.2025 16:15
CDU-Chef Merz zeigt Interesse an einem europäischen Nuklearschirm.
Frankreichs Präsident nimmt das dankend auf. Und der scheidende
Kanzler Scholz? Er bleibt skeptisch.
Brüssel (dpa) - Der scheidende Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich
zurückhaltend zu den Überlegungen von Frankreichs Präsident Emmanuel
Macron geäußert, europäische Verbündete mit französischen Atomwaf
fen
zu schützen. Beim EU-Gipfel in Brüssel beantwortete der SPD-Politiker
eine Journalistenfrage danach mit dem Hinweis auf die bestehende
nukleare Abschreckung der Nato, die auf den Atomwaffen der USA
basiert und an der Deutschland beteiligt ist. «Und ich glaube, das
soll nicht aufgegeben werden, ist die gemeinsame Auffassung aller
zentralen Parteien in Deutschland.»
Zuvor hatte Macron als Reaktion auf den Kurswechsel in der
US-Außenpolitik unter Präsident Donald Trump seine Überlegungen zu
einer gemeinsamen nuklearen Abschreckung bekräftigt. Er hatte dabei
an eine Aussage des potenziellen Nachfolgers von Scholz - CDU-Chef
Friedrich Merz - angeknüpft. «Als Antwort auf den historischen Aufruf
des zukünftigen deutschen Kanzlers habe ich beschlossen, die
strategische Debatte über den Schutz unserer Verbündeten auf dem
europäischen Kontinent durch unsere Abschreckung zu eröffnen.» Die
Entscheidungshoheit über einen Einsatz will er aber alleine bei
Frankreich belassen.
Merz hatte kurz vor der Bundestagswahl im ZDF gesagt, man müsse mit
den europäischen Atommächten Großbritannien und Frankreich über
nukleare Zusammenarbeit reden. Die Frage einer größeren nuklearen
Unabhängigkeit Europas sei in der Fachwelt schon seit Jahren Thema.
«Nur sie ist leider in der politischen Welt bis heute nicht
ausreichend diskutiert worden.»
Noch etwa 100 US-Atombomben in Europa stationiert
Erforderlich wären vermutlich riesige Investitionen, weil die
britischen und französischen Atomwaffen derzeit nur eine Art
nationale Ergänzung zur US-Abschreckung über die Nato waren. Die USA
haben Expertenschätzungen zufolge noch etwa 100 Atombomben in Europa
stationiert - einige davon sollen auf dem Fliegerhorst Büchel in der
Eifel lagern. Im Ernstfall sollen sie von Kampfjets der Bundeswehr
eingesetzt werden. Auch in Belgien, den Niederlanden, Italien und in
der Türkei sollen noch US-Atombomben stationiert sein. Offizielle
Angaben gibt es dazu nicht.
Seit dem Amtsantritt Trumps wachsen die Zweifel daran, dass sich die
Europäer noch auf den Schutz der USA verlassen können. Macron hatte
Deutschland und anderen EU-Partnern bereits 2020 während der ersten
Amtszeit des US-Präsidenten Gespräche über eine europäische
Kooperation bei der atomaren Abschreckung angeboten. Bei der
damaligen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) stieß er aber zunächst auf
genauso wenig Resonanz wie bei Scholz.
Der «Spiegel» berichtet jetzt allerdings, dass es seit mehr als einem
Jahr «einen strukturierten strategischen Dialog» der Bundesregierung
mit Großbritannien und Frankreich unter anderem über nukleare
Abschreckung gebe, an dem seit April 2024 die Sicherheitsberater der
Staats- und Regierungschefs beteiligt sind. Scholz bestätigte solche
Gespräche zwar. «Es bleibt aber trotzdem dabei, dass wir uns
gemeinsam dem Nato-Konzept verpflichtet fühlen und das ist Ihnen
bekannt und das ist auch im Interesse der gemeinsamen Sicherheit in
Europa», fügte er hinzu.
Merz auch in Brüssel - aber nicht beim Gipfel
Macron setzt nun darauf, dass er mit Merz einen echten Verbündeten
für seine Idee findet. Der war am Donnerstag ebenfalls in Brüssel -
aber nur zum Treffen der konservativen Staats- und Regierungschefs
sowie Parteivorsitzenden vor dem Gipfel. Er äußerte sich nicht
öffentlich.
Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk begrüßte den Vorstoß
Macrons. «Wir müssen diesen Vorschlag ernsthaft in Betracht ziehen,
denn es muss eine unserer Prioritäten sein, alle unsere Fähigkeiten
in Europa zu koordinieren und wirklich eine gut koordinierte
Streitmacht aufzubauen», sagte er. Auch der litauische Präsident
Gitanas Naus?da sprach von einer «sehr interessanten Idee», an die
man «hohe Erwartungen» habe.
Der Gedemütigte wird mit offenen Armen empfangen
Die Reaktion auf Trump ist das zentrale Thema des Sondergipfels in
Brüssel, zu dem auch Wolodymyr Selenskyj anreiste. Der zuletzt bei
seinem Besuch im Weißen Haus gedemütigte ukrainische Präsident wurde
in Brüssel mit offenen Armen empfangen.
«Dies ist ein entscheidender Moment für Europa», sagte
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. «Europa sieht sich
einer klaren und gegenwärtigen Gefahr gegenüber, und deshalb muss
Europa in der Lage sein, sich selbst zu schützen, sich zu
verteidigen, so wie wir die Ukraine in die Lage versetzen müssen,
sich selbst zu schützen.»
Von der Leyens 800-Milliarden-Plan
Bei dem Sondertreffen der EU-Spitzen wird unter anderem über eine
mögliche Erhöhung europäischer Verteidigungsausgaben beraten. Von der
Leyens EU-Kommission hat dafür einen Plan präsentiert und hofft, dass
er beim EU-Gipfel die notwendige Zustimmung bekommt. Mit mehreren
Maßnahmen könnten insgesamt fast 800 Milliarden Euro mobilisiert
werden, hofft von der Leyen. Für viele Regierungen stellt sich
allerdings die Frage, woher das Geld dafür kommen soll.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban und sein slowakischer
Kollege Robert Fico signalisierten vor dem Gipfel ihren Widerstand
gegen eine gemeinsame Erklärung zugunsten der Ukraine. Beide
befürworten Trumps Kurs im Ukraine-Konflikt und pflegen enge
Beziehungen zu Russlands Präsidenten Wladimir Putin.
Selenskyj: «Wir fühlen es»
Selenskyj bedankte sich in Brüssel dafür, dass die EU sein Land von
Beginn des Kriegs an stark unterstützt habe. «Sie haben ein starkes
Signal an das ukrainische Volk, an die ukrainischen Krieger, an die
Zivilbevölkerung, an alle unsere Familien gesendet», sagte er. «Wir
sind sehr dankbar, dass wir nicht allein sind. Das sind nicht nur
Worte. Wir fühlen es.»