Notlage in der Asylpolitik? Der Streit über eine EU-Klausel

09.05.2025 14:56

Wer an der Grenze um Asyl nachsuchte, konnte über Jahre nach
Deutschland einreisen. Nun darf die Bundespolizei auch Asylbewerber
zurückweisen. Muss dazu eine Notlage nach EU-Recht erklärt werden?

Berlin (dpa) - Herrscht wegen des Zuzugs von Migranten eine
«nationale Notlage» - also eine Art Ausnahmezustand, der
Zurückweisungen von Asylbewerbern an den deutschen Grenzen
rechtfertigt? Die «Welt» meldete, Kanzler Friedrich Merz habe eine
solche Notlage ausgerufen, und zwar nach Artikel 72 des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union. Das wurde aber schnell
dementiert. «Es hat niemand in der Bundesregierung, auch ich
persönlich nicht, eine Notlage ausgerufen», sagte Merz in Brüssel.

Worum geht es? Nach den EU-Bestimmungen der Dublin-Verordnung darf
die Bundespolizei Asylbewerber nicht einfach an der Grenze
zurückweisen. Vielmehr müssen die deutschen Behörden ein
kompliziertes und in der Praxis oft schlecht funktionierendes
Verfahren in Gang setzen, um sie an den zuständigen EU-Staat zu
überstellen - also dorthin, wo sie in die EU eingereist sind. 

Artikel 72 AEUV enthält allerdings eine Art Notlagenklausel. Danach
sind den Nationalstaaten Zurückweisungen an den Grenzen ausnahmsweise
gestattet, wenn dies für «die Aufrechterhaltung der öffentlichen
Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit» erforderlich ist. Merz
selbst hatte Ende August auf diese Bestimmung und die Möglichkeit
verwiesen, eine «nationale Notlage» in puncto Migration zu erklären.


Rechtsprofessor: «Notlage klingt nach Staatskollaps» 

Wann die Klausel greift, ist nicht klar definiert. Der Konstanzer
Rechtsprofessor und Migrationsexperte Daniel Thym findet die Debatte
«spannend» und empfiehlt, nicht von «Notlage» zu sprechen, sondern

von einer «Ausnahme». Auf X schreibt er: «Notlage klingt nach
Staatskollaps und Polizei auf den Straßen. Das fordert Art. 72 AEUV
aber überhaupt nicht. Anforderungen sind niedriger!» 

Und Thym betont im Podcast «Ronzheimer», es sei rechtlich gar nicht
notwendig, dass der Bundeskanzler dazu eine offizielle Erklärung
abgibt oder irgendetwas ausruft. Zu den Zurückweisungen von
Asylbewerbern, die Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) nun
ermöglicht, sagt er: «Das macht man einfach. Und wenn dann jemand
dagegen klagt, dann muss man vor Gericht.» Dort komme dann die
rechtliche Begründung auf den Prüfstand.

Ob Gerichte künftigen Klagen zurückgewiesener Migranten stattgeben,
ist laut Thym offen. «Sehr gut» sei, dass «vulnerable Gruppen» wie

Schwangere, Kinder und Kranke ausgenommen werden sollen. Das mindere
das Prozessrisiko, dass die Gerichte sofort Nein sagten.

Auch der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen

Papier, hält Zurückweisungen von Asylbewerbern für rechtens, wie er
der «Neuen Osnabrücker Zeitung» sagte. «Es gehört aus meiner Sich
t
zum unverzichtbaren Souveränitätsrecht eines Staates, nicht jede
Person einreisen zu lassen, die das Wort «Asyl» sagt.» Dem trage auch

das EU-Vertragsrecht Rechnung. «Ich selbst habe die Zurückweisungen
schon seit Jahren verlangt. Es ist nach deutschem Recht möglich und
richtig - wie auch nach europäischem Recht.»

Botschafter wurden vorab ins Bild gesetzt 

Die «Welt» hatte berichtet, über die Aktivierung der Ausnahmeklausel

habe das Bundesinnenministerium auch die Botschafter der deutschen
Nachbarstaaten unterrichtet. Das Ministerium bestätigte auf X zwar,
dass die Botschafter eingeladen waren. Dies sei aber geschehen, um
sie über die Intensivierung der bestehenden Binnengrenzkontrollen zu
informieren.

Nach dpa-Informationen gibt es Hinweise dafür, dass bei der
Entscheidung Dobrindts zum Vorgehen an den Grenzen der Artikel 72
durchaus eine Rolle gespielt hat. Demnach soll ein
Innen-Staatssekretär Vertreter der Anrainerstaaten und der EU über
die neue Lage in Kenntnis gesetzt und dabei auch auf den Artikel im
EU-Recht verwiesen haben.

Experten zufolge geht es bei den Zurückweisungen und den verstärkten
Kontrollen auch darum, Signale zu senden: Migranten sollen wissen,
dass sie möglicherweise zurückgewiesen werden. Und die EU-Nachbarn
sollen motiviert werden, ihre Durchreise Richtung Deutschland zu
stoppen. Dobrindt sagte zu seinen Zielen abends bei «Maybrit Illner»
im ZDF, er sage nicht, dass mit dieser Maßnahme im Hau-Ruck-Verfahren
alles ändere. «Nein, das wird es nicht. Es ist ein Element dafür, die

illegale Migration zurückzudrängen.»