Mama Mercouri - Wie sich Europa die Kulturhauptstadt erfand Von Gregor Tholl, dpa
20.06.2025 08:05
Es war einmal in Athen: Vor 40 Jahren begann die Tradition der
Kulturhauptstadt, die 2025 nach Chemnitz führt. Manche nennen sie die
beste EU-Erfindung überhaupt. Die Mutter des Ganzen: ein Filmstar.
Athen/Berlin (dpa) - Erst zum vierten Mal stellt Deutschland derzeit
eine europäische Kulturhauptstadt. Neben dem slowenisch-italienischen
Städteduo Nova Gorica und Gorizia ist 2025 die sächsische Stadt
Chemnitz, das frühere Karl-Marx-Stadt, eine «European Capital of
Culture» - nach Essen und dem Ruhrgebiet (2010), Weimar (1999) und
Berlin (1988).
Die Praxis, jährlich in Europa Kulturhauptstädte zu küren, wird
diesen Sommer 40 Jahre alt. Vielen gilt sie als größte
Erfolgsgeschichte europäischer Kulturpolitik. Zu verdanken ist die
populäre Tradition einer Filmschauspielerin.
Melina Mercouri ist die Mutter der Kulturhauptstadttradition
«Die Idee ging maßgeblich auf die griechische Kulturministerin Melina
Mercouri und ihr französisches Pendant, Jack Lang, zurück», erklärt
in Köln der Politikwissenschaftler Jürgen Mittag. «Beide verfolgten
das Ziel, durch Kultur die gemeinsame europäische Identität zu
stärken und zu vertiefen.»
Mercouri (1920-1994) war einst mit der Komödie «Sonntags. nie!»
(1960) bekanntgeworden. Darin spielte sie eine Prostituierte in
Piräus, die einen Frauenaufstand anführt und mit Lebenslust obsiegt.
Mercouri spielte zum Beispiel auch neben Peter Ustinov in «Topkapi»
mit und sie sang - sogar auf Deutsch («Ein Schiff wird kommen»).
Während der griechischen Militärdiktatur (1967-1974) lebte die später
sozialistische Politikerin im Exil in Frankreich. Wegen des Kampfs
gegen das Regime erkannte ihr der führende Junta-Politiker Stylianos
Pattakos die griechische Staatsbürgerschaft ab.
Mercouris Antwort darauf lautete: «Ich bin als Griechin geboren und
werde als Griechin sterben. Herr Pattakos ist als Faschist geboren.
Er wird als Faschist sterben.» Kulturministerin war Mercouri 1981 bis
'89 und erneut '93/'94.
So war das vor 40 Jahren
Juni 1985: In London besuchten Charles und Diana die Europa-Premiere
des James-Bond-Films «Im Angesicht des Todes» mit Roger Moore. In den
Charts in Deutschland stand Modern Talkings «You Can Win If You Want»
hoch im Kurs.
Am 21. Juni 1985, einem Freitag, proklamierte der damalige
griechische Staatspräsident Christos Sartzetakis die Metropole Athen
als erste «Kulturstadt Europas». Bis zur letzten Stunde war noch
gehämmert und geschraubt worden, wie die Nachrichtenagentur dpa
damals berichtete. Am Abend feierte sich Athen ausgelassen an den
rund 2.500 Jahre alten Bauten auf der Akropolis.
Die Idee, jedes Jahr eine Stadt zu zelebrieren, war im Juni 1983 bei
einem Gipfel beschlossen worden. Demnach sollte fortan jedes Jahr
eine andere Metropole «Kulturelle Hauptstadt» der Europäischen
Gemeinschaft, wie man die EU damals noch nannte, werden.
Athen begann 1985 mit einem überschaubaren Sommer-Festival. Heute ist
das Ganze meist mit einer Städtebauoffensive und einer Menge Events
verbunden. Es ist eine Chance für bislang eher verkannte Städte und
Regionen, europaweit oder gar global im Fokus zu stehen.
Kunst und Kultur und Katalysator für urbanen Wandel
Nach Athen kamen Florenz (1986), Amsterdam (1987), West-Berlin (1988)
und Paris (1989) an die Reihe. Die ersten Jahre seien «stark von
hochkulturellen Veranstaltungen geprägt» gewesen, sagt Mittag, der
einst das Buch «Die Idee der Kulturhauptstadt Europas» herausgab.
In den 90er Jahren habe sich das Konzept grundlegend verändert.
«Industrie- und Hafenstädte wie Glasgow (1990) oder Antwerpen (1993)
nutzten den Titel nicht mehr nur für prestigeträchtige
Kunstinstallationen, sondern auch als Katalysator für urbanen
Wandel», erklärt Professor Mittag.
Der Titel wurde jetzt zur Revitalisierung von Stadtvierteln genutzt,
zur Förderung des Tourismus und auch zur Stärkung der lokalen
Identität. «Die Kulturhauptstadt wird zum strategischen Instrument
der Stadtentwicklung», so Mittag, «mit teils spektakulären Events wie
2010, als unter der Federführung Essens das gesamte Ruhrgebiet als
lebendige Kulturmetropole bespielt wurde.»
Heute müsse, sagt der Kulturhauptstadtexperte Mittag, immer wieder
«die Balance zwischen kultureller und europäischer Innovation,
zwischen infrastruktureller und wirtschaftlicher Nachhaltigkeit sowie
zwischen touristischer Attraktion und der Einbeziehung der lokalen
Bevölkerung» neu austariert werden.
Die Verfahren zur Findung der Kulturhauptstädte sind aufwendig
Übrigens wäre Europa nicht Europa, wenn es nicht im Laufe der Zeit
mit dem Prädikat kompliziert geworden wäre. So gab es im Jahr 2000
einmalig sogar mal neun Hauptstädte, seitdem tragen meist zwei Städte
pro Jahr den Titel.
Seit 2020 können sich außerdem alle paar Jahre Städte aus
EU-Beitrittskandidaten oder EFTA/EWR-Staaten um den Titel bewerben.
So gibt es immer mal wieder drei Kulturhauptstädte Europas. 2024
waren es Bad Ischl (Österreich), Tartu (Estland) und Bodø (Norwegen).
2028 sollen es Bourges (Frankreich), Budweis (Tschechien) und Skopje
(Nordmazedonien) sein.