Hinter schwedischen Gardinen in Estland Von Alexander Welscher und Steffen Trumpf, dpa
02.08.2025 07:00
In Schweden platzen die Haftanstalten aus allen Nähten, in Estland
ist dagegen so viel Platz wie nirgends sonst in der EU. Das führt zu
einem speziellen Deal. Ein Ortsbesuch im Gefängnis von Tartu.
Tartu (dpa) - Endlos wirkende Gänge führen zu den Zellen, die mit
schweren Metalltüren verschlossen und im Inneren mit Holzmöbeln und
Etagenbetten ausgestattet sind. Der Gefängnistrakt in Estlands
zweitgrößter Stadt Tartu unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum
von denen in Haftanstalten anderer Länder. Und doch ist dort so
manches anders - nicht nur die in hellgelb und violett
gehaltenen Wände und Türen. Viele Zellen in dem Gefängnis stehen le
er
- nur knapp 300 der insgesamt 933 Haftplätze sind belegt.
Deshalb sollen hier nun schon bald Hunderte Straftäter aus Schweden
untergebracht werden.
«Estland hat sehr erfolgreiche Reformen in der Kriminalpolitik
durchgeführt, und wir verfügen nun über mehr Gefängnisplätze, als
wir
für unseren eigenen Bedarf benötigen», sagt der Leiter des estnisch
en
Strafvollzugs, Rait Kuuse, bei einem Ortstermin im 2002 neu
eröffneten Gefängnis zu den Hintergründen einer Mitte Juni
unterzeichneten Regierungsübereinkunft. Sie sieht die Anmietung von
bis zu 400 Zellen durch Schweden vor, in denen insgesamt bis zu 600
Häftlinge untergebracht werden sollen. Die ersten Verlegungen könnten
im Herbst kommenden Jahres erfolgen.
Es wird eng in schwedischen Gefängnissen
Schweden hat nach Angaben der Statistikbehörde Eurostat eine der
höchsten Haftbelegungsquoten aller EU-Staaten: Im jüngsten
Vergleichsjahr 2023 lag die Auslastung in dem skandinavischen Land
bei einem Wert von 112,6 - das bedeutet, dass der schwedische
Strafvollzug mehr Straftäter unterbringen muss, als er Plätze zur
Verfügung hat. Noch größerer Platzmangel herrscht nur in Zypern,
Frankreich, Italien und Belgien. Zum Vergleich: Deutschland lag mit
einem Wert von 81,8 deutlich unter dem EU-Durchschnitt.
Ein Hauptgrund für das Gedränge hinter schwedischen Gardinen liegt in
der seit Jahren grassierenden Bandenkriminalität im Land.
Rivalisierende Gangs ringen um die Machthoheit auf dem lukrativen
Drogenmarkt, sie bekämpfen sich mit gewalttätigen Methoden
gegenseitig, was immer wieder zu tödlichen Schüssen und Explosionen
vor Mehrfamilienhäusern führt - ein Phänomen, das ganz und gar nicht
zu der Vorstellung vom friedlichen Bullerbü-Schweden passen mag.
Die Regierung in Stockholm hat den Gangs vor längerem den Kampf
angesagt. Sie hat verschärfte Gesetze auf den Weg gebracht und die
Polizei mit neuen Mitteln und Befugnissen ausgestattet.
Regierungschef Ulf Kristersson macht immer wieder klar, dass der
Kampf gegen die Gangs nicht von heute auf morgen zu gewinnen sei,
sondern Jahre dauern könnte. Jahre, in denen die Lage in den
schwedischen Haftanstalten weiter angespannt bleiben dürfte.
Des einen Sorgen, des anderen Geschäft?
Darum hat Schweden den Blick nach Estland gerichtet - das Land, das
die niedrigste Belegungsquote (56,2) der gesamten EU hat. Die Zahl an
dortigen Insassen hat sich seit 2010 mehr als halbiert und ein
Rekordtief erreicht. Erreicht wurde dies durch Gesetzänderungen, eine
bessere Bekämpfung von Kriminalität und Präventionsarbeit. So setzt
Estland etwa in stärkerem Maße auch auf elektronische Überwachung und
Bewährungsstrafen.
Gegenwärtig sind laut Kuuse nur etwas mehr als die Hälfte der
insgesamt rund 3.000 Haftplätze im Land belegt. «Wir haben nicht
erwartet, dass die Zahlen so schnell sinken und sind in gewisser
Weise ein Opfer unseres eigenen Erfolgs», sagt er. Und so reifte die
Idee, die Haftplätze zu vermieten. Estland führte dazu auch Gespräche
mit Großbritannien und den Niederlanden. Doch nur mit Schweden kam es
zu konkreten Verhandlungen, die in der nun noch von den beiden
Parlamenten zu ratifizierenden Regierungsvereinbarung mündeten.
Für die Bereitstellung von 300 Haftplätzen soll Estland demnach eine
Mindestzahlung von 30,6 Millionen Euro pro Jahr erhalten. Für jeden
weiteren Platz muss Schweden monatlich 8.500 Euro pro Häftling zahlen
- das ist dem schwedischen Justizminister Gunnar Strömmer zufolge
immer noch monatlich 3.000 Euro günstiger, als Straftäter in Schweden
unterzubringen.
Rein ums Geld gehe es dabei aber nicht, betont Kuuse. Das Gefängnis
von Tartu sei eine sehr teure und moderne Einrichtung, ein Abriss der
unausgelasteten Anlage mache keinen Sinn, da Estland sie in Zukunft
möglicherweise noch brauchen werde. Auch könnte durch die Vermietung
der Zellen das auch in anderen Bereichen der inneren Sicherheit
eingesetzte Gefängnispersonal gehalten werden. Das Abkommen sei daher
für beide Seiten vorteilhaft und eine Art Win-Win-Situation, meint
der leitende Justizbeamte.
Bedenken und Vorbehalte
Nicht alle in Estland und Tartu teilen diese Meinung. Teile der
Bevölkerung und so mancher Lokalpolitiker in der knapp 100.000
Einwohner zählenden Universitätsstadt zeigen sich beunruhigt. Ihre
Hauptsorge: ein Import von gemeingefährlichen Straftätern, der
Estlands innere Sicherheit gefährden könnte. Die Kritik an
Justizministerin Liisa-Ly Pakosta seitens der Opposition war laut.
Auch in einer Umfrage waren mehr Befragte gegen als für das Abkommen
mit Schweden.
Die Regierungen versuchen, diesen Sorgen entgegenzutreten.
Straftäter, die in Schweden wegen Terrorvergehen oder schwerer
organisierter Kriminalität verurteilt wurden und somit ein höheres
Sicherheitsrisiko darstellen, sollen nicht nach Estland gebracht
werden. Das lässt sich so deuten, dass verurteilte Gang-Mitglieder
überwiegend weiter in Schweden einsitzen sollen. In Betracht kommen
stattdessen andere volljährige Männer, die etwa für Mord, Sexual-
oder Wirtschaftsverbrechen verurteilt wurden.
Estland wird Kuuse zufolge die von Schweden ausgewählten Gefangenen
selbst überprüfen und im Zweifel auch zurückweisen können. In Tartu
sollen sie keinen Freigang erhalten und auch nicht in Estland
entlassen werden, sondern mindestens einen Monat vor Ende ihrer
Haftstrafe nach Schweden zurückgeschickt werden. Ein Kontakt mit
estnischen Insassen ist ebenfalls nicht vorgesehen. Damit soll eine
mögliche Vernetzung von Straftätern in Estland und über die Ostsee
hinweg nach Schweden verhindert werden.
Vergleichbare Haftbedingungen
Ansonsten soll für schwedische Gefangene der gleiche Tagesablauf wie
für alle anderen Insassen gelten, und sie werden eine Zelle wie alle
anderen belegen: zehn Quadratmeter groß, Etagenbett, Bad
mit Kloschlüssel und teils auch Dusche, Tisch, Stuhl, Regal und
Kleiderhaken plus Blick durch ein vergittertes Fenster. Dazu kommen
Gemeinschaftsräume mit TV, Waschmaschine und Kühlschrank. Generell
gilt eine Arbeitspflicht, für Freizeitaktivitäten stehen
Sportanlagen, eine Kunstwerkstatt und ein Musikstudio zur Verfügung.
Und auch ein Krankenhaus und eine Kirche gibt es in dem Gefängnis,
das bisweilen eher an ein streng bewachtes Hostel statt an eine
Haftanstalt erinnert.
Die Bedingungen und Standards für den Strafvollzug in Estland und
Schweden sind nach Angaben von Kuuse vergleichbar - ein Punkt, der
der schwedischen Regierung wichtig ist. Dennoch bleiben
Herausforderungen wie die Sprache. So sollen das estnische
Gefängnispersonal und die schwedischen Insassen auf Englisch
miteinander kommunizieren. Und auch die Möglichkeiten für Besuche aus
der Heimat müssen noch im Detail geregelt werden.