Deutschland bei Asylanträgen nur noch auf Platz drei Von Christoph Sator und Anne-Beatrice Clasmann, dpa
08.09.2025 15:31
Seit 2012 lag die Bundesrepublik jedes Jahr vorn. Jetzt stehen
Frankreich und Spanien in der EU-Halbjahresbilanz an der Spitze. Nach
dem Machtwechsel in Syrien gehen die Zahlen insgesamt zurück.
Valletta/Berlin (dpa) - Trendumkehr bei der Zuwanderung nach Europa:
Deutschland ist erstmals seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr das
Land mit den meisten neuen Asylanträgen. Und noch etwas hat sich nach
der Halbjahresbilanz der EU-Asylagentur geändert: Nach dem
Machtwechsel in Syrien kommen die meisten neuen Asylbewerber nicht
mehr von dort nach Europa, sondern aus dem südamerikanischen Land
Venezuela.
Im ersten Halbjahr gingen der Statistik zufolge bei den deutschen
Behörden alles in allem 70.000 neue Anträge ein. Damit liegt die
Bundesrepublik innerhalb der EU auf Platz drei hinter Frankreich
(78.000) und Spanien (77.000). Deutschland steht also erstmals seit
2012 nicht mehr an der Spitze.
Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) beantragten von
Anfang Januar bis Ende August 78.246 Menschen erstmals in Deutschland
Schutz. Das waren etwa halb so viele Asylerstanträge wie im
Vorjahreszeitraum. Dass die Halbjahreszahlen der Asylagentur EUAA mit
Sitz auf Malta stets leicht von den Bamf-Daten für diesen Zeitraum
abweichen, hängt damit zusammen, dass die Agentur Monatszahlen
addiert. Dadurch sind Nachmeldungen und Doppelzählungen nicht
berücksichtigt. Die Aussagen zum Trend insgesamt sind davon jedoch
nicht berührt.
Innenminister Schuster: Rückgang ist Folge der Grenzkontrollen
Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) sieht in den
intensivierten Kontrollen und der Zurückweisung auch von
Asylsuchenden an den Grenzen einen Grund für den Rückgang in
Deutschland. Er sagte der Deutschen Presse-Agentur: «Jetzt kommt es
im nächsten Schritt zusätzlich darauf an, auch die Rückführungen un
d
Abschiebungen relevant zu steigern, um die Ausreisepflicht der
abgelehnten Asylbewerber konsequenter durchzusetzen.» Von der EU
erwarte er zugleich rasch Maßnahmen, «mit denen wir die gezielte
Umgehung der gemeinsamen europäischen Asylregeln aus Venezuela in den
Griff bekommen können».
Asylbewerber aus Venezuela reisen häufig über Spanien in die EU ein.
Sie werden, wenn sie in Deutschland Asyl beantragen, nach dem
sogenannten Königsteiner Schlüssel in der Regel in Sachsen
untergebracht. In den ersten acht Monaten dieses Jahres beantragten
1.271 Menschen aus Venezuela erstmals in Deutschland Asyl. Die
Gesamtschutzquote für Venezolaner lag laut Bamf zuletzt bei 10,9
Prozent.
Minus 43 Prozent in Deutschland
Die Zahl der neuen Asylbewerber innerhalb der Europäischen Union
sowie in den Nicht-Mitgliedsländern Norwegen und Schweiz ging auch
insgesamt zurück. Bis Ende Juni wurden in der Staatengruppe aus 29
Ländern (EU+) insgesamt 399.000 neue Anträge registriert - im
Vergleich zum ersten Halbjahr 2024 ein Rückgang von 114.000
beziehungsweise 23 Prozent. Der Rückgang wird von der Agentur
insbesondere darauf zurückgeführt, dass nach dem Sturz von Machthaber
Baschar al-Assad nicht mehr so viele Menschen aus Syrien flüchten.
Mit Ausnahme von Frankreich gingen die Zahlen in allen großen
Zielländern zurück: am deutlichsten in Deutschland (minus 43
Prozent), aber auch in Italien (minus 25 Prozent) und Spanien (minus
13 Prozent).
Viele Klagen gegen Asylentscheidungen
Bei den deutschen Verwaltungsgerichten ist dieser Rückgang noch nicht
spürbar. Die Zahl der Asylklagen ist nach einer Auswertung der
«Deutschen Richterzeitung» (DRZ) im ersten Halbjahr deutlich
gestiegen. Demnach gingen in diesem Jahr bis zum 30. Juni 76.646 neue
Hauptsacheverfahren bei den Verwaltungsgerichten ein. Das sind mehr
Fälle als im Gesamtjahr 2023 (71.885).
Die deutliche Reduzierung der Zahl der Asylanträge in den vergangenen
Monaten sei wohl noch nicht in den Verwaltungsgerichten angekommen,
sagt ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. Es sei aber zu
erwarten, «dass wenn wir unseren Weg konsequent weitergehen und die
Asylantragszahlen weiter fallen, dass es auch irgendwann in der
Justiz ankommen wird» und dann zu einer dauerhaften Entlastung der
Verwaltungsgerichte führen werde.
Wer stellt seinen Antrag in Frankreich und warum?
Unter den Asylbewerbern in Frankreich sind relativ viele Menschen aus
der Ukraine, obwohl ihnen über die sogenannte
EU-Massenzustromrichtlinie automatisch Schutz gewährt wird. Wer eine
längerfristige Bleibeperspektive anstrebt, wählt jedoch oft diesen
Weg. Auf Platz vier hinter Frankreich, Spanien und Deutschland findet
sich nun Italien (64.000 neue Anträge). Großbritannien ist nach
seinem Austritt aus der EU in dieser Statistik nicht mehr dabei.
Von den Asylbewerbern aus Venezuela stellten fast alle ihren Antrag
in Spanien, wo ihre Muttersprache gesprochen wird. Als Zielland ist
es für die Venezolaner zudem attraktiv aufgrund einer wachsenden
Wirtschaft und einer Regierung, die Einwanderer willkommen heißt.
Autoritäre Herrschaft und Armut in Venezuela als Fluchtgrund
Die Massenauswanderung aus dem lateinamerikanischen Land wird als
direkte Folge der autoritären Herrschaft von Präsident Nicolás Maduro
gesehen, der seit 2013 regiert. Nach Angaben des Observatorio de la
Diáspora Venezolana leben inzwischen mehr als 9,1 Millionen
Venezolaner außerhalb ihres Heimatlandes.
Die Bevölkerung Venezuelas ist seit 2017 trotz hoher Geburtenrate von
rund 30 Millionen auf aktuell gut 28 Millionen geschrumpft. Viele
fliehen vor Armut, fehlender Infrastruktur und Gesundheitsversorgung
sowie fehlenden Perspektiven. Ziel der Migration sind Nachbarländer
wie Kolumbien, Peru und Chile, zunehmend aber auch Europa und
Nordamerika.
Meiste Neuankömmlinge aus Venezuela
Erstmals seit einem Jahrzehnt kamen die meisten neuen Asylbewerber
(25.000) nicht aus Syrien, sondern aus Venezuela (49.000). Aus
Afghanistan beantragten 42.000 Menschen neu Asyl.
Der Umgang mit Migranten gehört seit Jahrzehnten zu den Streitthemen
der europäischen Politik. Die EU arbeitet inzwischen mit
nordafrikanischen Staaten zusammen, um Migranten von der Flucht nach
Europa abzuhalten. Bei Versuchen, mit oft kaum seetüchtigen Booten
das Mittelmeer zu überqueren, kommt es immer wieder zu tödlichen
Katastrophen.
EU-Kommissar Magnus Brunner bezeichnet den Rückgang in Brüssel als
«Ergebnis einer konsequenteren Politik». Jetzt müsse die
Zusammenarbeit mit sogenannten Drittstaaten verbessert werden, «damit
Rückführungen tatsächlich funktionieren und unsere Asylsysteme
entlastet werden».
Nur jeder vierte Antrag wird anerkannt
Die sogenannte Anerkennungsquote ging nach Angaben der Agentur auf
den niedrigsten je gemessenen Stand zurück: Nur jeder vierte
Erstantrag (25 Prozent) wurde bewilligt. Gleichwohl gibt es einen
riesigen Berg an Anträgen, der noch abgearbeitet werden muss: Ende
Juni war über mehr als 900.000 Anträge in erster Instanz bisher nicht
entschieden. Weil Widerspruch möglich ist, stehen insgesamt etwa 1,3
Millionen Entscheidungen aus.