Menschenrechte unter Druck - 75 Jahre Konvention
04.11.2025 15:33
Politiker kritisieren den Menschenrechtsgerichtshof, Urteile werden
ignoriert - wo steht Europas Menschenrechtsabkommen nach 75 Jahren?
Straßburg (dpa) - Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)
feiert ihr 75. Jubiläum unter Druck. Über ihre Einhaltung wacht der
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), den mehrere Länder für seine
Rechtsprechung angreifen. Zudem werden Urteile immer wieder nicht
umgesetzt. Dabei sichert die EMRK wichtige Rechte zu, etwa das Recht
auf Leben, das Verbot der Folter oder die Meinungsfreiheit.
In einem offenen Brief im Mai hatten neun europäische Staats- und
Regierungschefs - darunter von Dänemark, Italien, Österreich und
Polen - den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für seine
Auslegung der EMRK in Migrationsfragen kritisiert, weil sie den
Handlungsspielraum der Staaten zu stark einschränke.
Die Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR),
Beate Rudolf, blickt mit Sorge darauf. «Das ist alarmierend im
Rechtsstaat», sagte Rudolf der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Kritik
am Gerichtshof dürften die Staaten natürlich äußern, aber nicht dur
ch
öffentlichen Druck, sondern indem sie sich an den Gerichtsverfahren
beteiligen.
Der Generalsekretär des Europarats, Alain Berset, sagte der BBC, er
sei «absolut bereit und wirklich offen für alle politischen
Diskussionen». Dazu gehöre die Diskussion über Migrationsfragen.
«Lasst uns (...) sehen, was wir angehen und vielleicht ändern
müssen», sagte er.
Expertin kritisiert das «stille Ignorieren von Urteilen»
Dana Schmalz, Expertin für Migrationsrecht und Menschenrechte am
Max-Planck-Institut für Völkerrecht, wünscht sich eine
differenziertere Debatte über die Entscheidungen des EGMR. Wahlweise
heiße es, der Gerichtshof sei aktivistisch und schütze Migranten
übermäßig, oder er sei gekippt und wahre die Menschenrechte nicht
mehr, sagte Schmalz der dpa. Für beide Extreme gebe es keine
Faktengrundlage, so die Rechtswissenschaftlerin.
Weit verbreiteter als verbale Attacken von Politikern sei aber das
«stille Ignorieren von Urteilen», mit dem die Konvention untergraben
werde, sagte Schmalz weiter. Der Gerichtshof stelle regelmäßig bei
den Flüchtlingslagern in Griechenland Verletzungen der EMRK fest. Es
ändere sich aber überhaupt nichts. Die Rechtswissenschaftlerin
befürchtet, dass so die tatsächliche Wirkung der Institution und
ihrer Entscheidungen abnehme. «Mit jedem Urteil, was die EU-Staaten
ignorieren, kratzt man ein bisschen an der Autorität des
Gerichtshofs.»
46 Staaten zur Achtung verpflichtet
DIMR-Direktorin Rudolf fordert ein klares Bekenntnis vonseiten der
Staaten zum Gerichtshof. «Wir sollten stolz darauf sein, dass wir in
Europa einen Gerichtshof haben, der verbindlich und letztinstanzlich
entscheidet bei Menschenrechtsverletzungen durch Staaten», sagte die
Direktorin des Menschenrechtsinstituts. «Das haben wir über 75 Jahre
entwickelt.»
Am 4. November 1950 unterzeichneten die ersten Mitgliedstaaten des
Europarats das Abkommen, darunter auch Deutschland. 1953 trat es in
Kraft. Mittlerweile verpflichtet die EMRK die 46 Staaten des
Europarats, eine von der EU unabhängige Organisation.
