Neue EU-Analyse sieht Reformtempo der Ukraine kritisch Von Ansgar Haase und Niklas Treppner, dpa

04.11.2025 17:33

Einmal im Jahr werden in der EU die Reformanstrengungen von
Beitrittskandidaten bewertet. Nun ist es wieder so weit. Die Ukraine
muss sich Kritik gefallen lassen, andere schneiden deutlich besser
ab.

Brüssel (dpa) - Die Ukraine muss ihr Reformtempo erhöhen, wenn sie
die selbstgesteckten Ziele auf dem Weg zu einer Aufnahme in die
Europäische Union erreichen will. Zu diesem Ergebnis kommt eine
Analyse, die die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas und
Erweiterungskommissarin Marta Kos am Nachmittag in Brüssel
vorgestellt haben. Kallas attestierte der Ukraine dennoch
Fortschritte: Die umfassenden Reformen während des russischen
Angriffskriegs zeigten das beachtliche Bemühen des Landes um eine
EU-Mitgliedschaft.

In dem Text heißt es, die Ukraine habe im vergangenen Jahr trotz
ihrer äußerst schwierigen Lage ein bemerkenswertes Engagement im
EU-Beitrittsprozess gezeigt. Jüngste negative Entwicklungen müssten
allerdings entschieden rückgängig gemacht werden - so etwa der Druck
auf Antikorruptionsbehörden und die Zivilgesellschaft. 

Zudem mahnen die Autoren des Berichts an, die Angleichung an
EU-Standards beim Schutz der Grundrechte sowie Verwaltungs- und
Dezentralisierungsreformen voranzutreiben. Fortschritte seien
weiterhin notwendig, um Unabhängigkeit, Integrität, Professionalität

und Effizienz in Justiz, Staatsanwaltschaft und Strafverfolgung zu
stärken sowie organisierte Kriminalität intensiver zu bekämpfen.

Ehrgeizige Ziele

Die ukrainische Regierung hat sich selbst das Ziel gesetzt, die
EU-Beitrittsverhandlungen bis Ende 2028 abzuschließen. In der Analyse
der notwendigen Reformfortschritte wird nun aber deutlich vor dem
Risiko gewarnt, dass damit zu große Erwartungen geschürt werden
könnten. Die Kommission unterstütze das ehrgeizige Ziel, weise jedoch
darauf hin, dass hierfür eine Beschleunigung des Reformtempos
erforderlich sei, heißt es dort. Das gelte insbesondere in
grundlegenden Bereichen wie der Rechtsstaatlichkeit.

Neben der Ukraine wurden an diesem Dienstag auch das kleine
Nachbarland Moldau sowie die Westbalkanstaaten Montenegro, Albanien,
Serbien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien und Kosovo als
EU-Beitrittsanwärter von der EU-Kommission bewertet. Zur Türkei und
Georgien gibt es ebenfalls Analysen, in beiden Fällen liegt der
Beitrittsprozess allerdings wegen demokratischer und
rechtsstaatlicher Defizite auf Eis.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen teilte mit, man sei
entschlossener denn je, eine EU-Erweiterung zu verwirklichen. «Aber
es muss und wird ein leistungsorientierter Prozess bleiben», fügte
die deutsche Politikerin hinzu. 

Montenegro und Albanien kommen EU-Beitritt näher

Für Albanien wird ein Abschluss der Beitrittsverhandlungen bis Ende
2027 für möglich gehalten. Am weitesten im EU-Aufnahmeprozess ist
nach der neuen Analyse Montenegro. Dem Land wird bescheinigt, die
Beitrittsverhandlungen bis Ende 2026 abschließen zu können, wenn es
das Reformtempo beibehält.

EU-Ratspräsident António Costa sagte auf einer Veranstaltung zur
EU-Erweiterung des Senders Euronews, Montenegros Ziel, die
Verhandlungen bis Ende nächsten Jahres abzuschließen, erscheine
glaubwürdig - vorausgesetzt, das Land setze sein Engagement und die
intensive Arbeit an den erforderlichen Reformen fort. Er glaube, dass
Montenegro 2028 der 28. EU-Mitgliedsstaat werden könne.

Das Ende der Verhandlungen bedeutet nicht, dass die Länder dann auch
wirklich beitreten können. Voraussetzung dafür ist, dass alle
EU-Staaten den von der EU-Kommission ausgehandelten
Beitrittsverträgen zustimmen und diese dann auch ratifizieren. In
Frankreich etwa könnte vor der Ratifizierung noch ein Referendum
organisiert werden.

Dauert der EU-Aufnahmeprozess zu lange? 

In Brüssel, aber auch in Deutschland werden die zuletzt sehr
langwierigen Entscheidungsprozesse innerhalb der EU mit Sorge
gesehen. Grund ist insbesondere das Risiko, dass Länder mit fehlender
Beitrittsperspektive engere Partnerschaften mit den Systemrivalen
China oder Russland eingehen könnten. «Die Menschen beginnen, das
Vertrauen auf eine baldige Zukunft in der EU zu verlieren», warnte
jüngst der deutsche Außenminister Johann Wadephul (CDU) zu einem
Treffen mit den Westbalkanländern. Das könne man sich nicht leisten.

EU-Außenbeauftragte Kallas betonte, der russische Angriffskrieg und
die geopolitischen Verschiebungen machten die Bedeutung einer
EU-Erweiterung deutlich. Sie sei notwendig, wenn die Europäische
Union auf der Weltbühne eine stärkere Rolle spielen wolle, sagte
Kallas. Chancen böten sich nicht oft, aber jetzt sei das Fenster weit
geöffnet. «Gleichzeitig werden wir keine Abstriche machen und wir
werden keine Abkürzungen anbieten», fügte die estnische Politikerin
hinzu. 

Georgien nur noch auf dem Papier Beitrittskandidat

Schon jetzt als äußerst schwierige Fälle gelten die
Beitrittskandidatenländer Georgien und die Türkei, die auch in diesem
Jahr wieder ein negatives Zeugnis ausgestellt bekommen. Zu Georgien
heißt es, das Land sei angesichts des Kurses der aktuellen Regierung
nur noch auf dem Papier ein Beitrittskandidat.
Erweiterungskommissarin Kos betonte, die georgischen Behörden müssten
dringend ihren Kurs ändern und auf die Forderung ihrer Bürger nach
einer europäischen Zukunft reagieren.

Als Beispiele werden die Verabschiedung repressiver Gesetze, eine
politische Instrumentalisierung der Justiz, die Verfolgung von
Oppositionsführern sowie willkürliche Verhaftungen von
Demonstrierenden und Journalistinnen und Journalisten genannt. In der
Türkei wurden ebenfalls weitere Rückschritte in den Bereichen
Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit festgestellt. Das Land sollte
diese rückgängig machen, wird in dem Bericht gefordert.