) EuGH kippt zentrale Vorgaben der EU-Mindestlohnrichtlinie Von Valeria Nickel und Ansgar Haase, dpa
11.11.2025 16:47
Darf die EU Kriterien für die Festsetzung von angemessenen
Mindestlöhnen vorgeben? Das höchste europäische Gericht sagt in einem
neuen Urteil Nein. Der Kläger bekommt aber nur teilweise recht.
Luxemburg (dpa) - Die EU hat bei der Festlegung von einheitlichen
Standards für Mindestlöhne ihre Kompetenzen überschritten. Der
Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg erklärte zwei
Bestimmungen in der EU-Mindestlohnrichtlinie für nichtig. Dabei
handelt es sich einerseits um Kriterien für die Festlegung und
Aktualisierung der Löhne und andererseits um eine Vorschrift, die
eine Senkung der Löhne unterbindet, wenn sie einer automatischen
Indexierung unterliegen.
Gegen das 2022 von den EU-Staaten per Mehrheitsentscheidung
beschlossene Regelwerk hatte Dänemark geklagt. Der Gerichtshof gab
dem Land damit teilweise recht. Dänemarks Arbeitsminister Kaare
Dybvad Bek sprach von einem «halben Sieg».
Unterstützer der Richtlinie zeigen sich allerdings ebenfalls
zufrieden mit der Entscheidung. Das Ziel der Richtlinie, die Stärkung
der Tarifbindung, stehe weiterhin auf festem Grund, kommentierte der
Vorsitzende des CDU-Sozialflügels und zuständiger Verhandlungsführer
im Europäischen Parlament, Dennis Radtke. Auch
Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas begrüßte das Urteil, weil es einen
Großteil des Regelwerks bestätige. Für Deutschland bedeute das
Rückenwind beim Einsatz für angemessene Mindestlöhne, sagte die
SPD-Politikerin. Befürworter der Richtlinie hatten nach einem
EuGH-Gutachten von Anfang des Jahres auch mit der Option rechnen
müssen, dass die Richtlinie komplett für rechtswidrig erklärt wird.
Richtlinie muss nicht abgeschafft werden
Die Richterinnen und Richter urteilten nun, es sei ein unmittelbarer
Eingriff in die Festsetzung des Arbeitsentgelts, dass der
EU-Gesetzgeber Kriterien für die Festlegung und Aktualisierung der
Mindestlöhne aufgeführt habe. Das Gleiche gelte für das Verbot, Löh
ne
bei automatischen Anpassungen durch Indexierung zu senken. Die Höhe
der Löhne ist nach den EU-Verträgen Angelegenheit der
Mitgliedstaaten.
Zugleich stellte der Gerichtshof klar, dass die
Gesetzgebungskompetenz der EU in Lohnfragen nur bei unmittelbaren
Eingriffen ausgeschlossen ist und dass sie sich nicht auf alle
Bereiche erstreckt, die mit Arbeitsentgelt zusammenhängen. Den
unmittelbaren Eingriff sah er nur in den zwei konkreten Fällen. Im
Übrigen bleibt die Mindestlohnrichtlinie, die einen Rahmen zur
Bestimmung von Mindestlöhnen schafft, dem Urteil zufolge bestehen.
Keine direkte Auswirkung auf deutschen Mindestlohn
Auf die Höhe des Mindestlohns in Deutschland hat die Entscheidung
keine direkte Auswirkung, weil diese bislang auf Grundlage des
bereits seit 2014 existierenden nationalen Mindestlohngesetzes
festgelegt wird. Die Bundesregierung hatte jüngst beschlossen, dass
der derzeitige Mindestlohn in Höhe von 12,82 Euro zum 1. Januar auf
13,90 Euro pro Stunde und ein Jahr später um weitere 70 Cent auf
14,60 pro Stunde steigt.
Nach dem EuGH-Urteil sind die EU-Staaten außerdem künftig weiter
verpflichtet, auf hohe Abdeckungsraten von Tarifverträgen
hinzuwirken. Der Gerichtshof verneinte hier eine
Kompetenzüberschreitung der EU. Die Bestimmung verpflichte die
Mitgliedstaaten nämlich nicht, zu regeln, dass mehr Arbeitnehmer
einer Gewerkschaft beizutreten haben, hieß es.
Deutschland muss Aktionsplan für mehr Tarifbindung vorlegen
Für Deutschland bedeutet das, dass das Land weiterhin einen
Aktionsplan zur Steigerung der Tarifbindung vorlegen muss. Die
Pflicht gilt nach der Mindestlohnrichtlinie, wenn weniger als 80
Prozent der Beschäftigten von Tarifverträgen erfasst werden.
Deutschland hat den Plan nach Angaben des Bundesministeriums für
Arbeit und Soziales bisher nicht vorgelegt, obwohl es den
Schwellenwert nicht erreicht. Dies soll den Angaben zufolge bis zum
31. Dezember geschehen. Es wurden bereits Stellungnahmen von
Sozialpartnern eingeholt.
«Die europäische Sozialpolitik bleibt auf Kurs», sagte der
CDA-Vorsitzende Radtke. Die vom Gericht beanstandete Indexierung und
verpflichtende Kriterien zur Lohnfestsetzung beträfen technische
Fragen.
Die wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen
Hans-Böckler-Stiftung, Bettina Kohlrausch, forderte, die
Bundesregierung müsse jetzt zügig handeln und einen Aktionsplan mit
konkreten Maßnahmen vorlegen, um die Tarifbindung in Deutschland
wieder in Richtung 80 Prozent zu bringen.
Arbeitgeber reagieren mit Kritik
Die deutschen Arbeitgeber kritisierten das Urteil, weil weite Teile
der Richtlinie bestätigt wurden. Jetzt müsse die Bundesregierung
weitere EU-Eingriffe in die Sozialpolitik abwehren, sagte der
Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen
Arbeitgeberverbände, Steffen Kampeter.
Aus Sicht des Vorstandsmitglieds des Deutschen Gewerkschaftsbunds
Stefan Körzell sei bedauerlich, dass der EuGH die einheitlichen
europäischen Kriterien für angemessene Mindestlöhne gekippt habe.
Insgesamt zeigten sich die Gewerkschaften jedoch zufrieden. Der EuGH
stärke mit dem Urteil die Rechte der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer und den Zusammenhalt in Europa, so Körzell.
Die dänische Regierung betrachtet das Urteil als Teilerfolg. Er hätte
zwar gehofft, dass das EuGH die gesamte Mindestlohnrichtlinie für
nichtig erkläre, weil sich die EU nicht in die Lohnregulierung in
Dänemark einmischen solle, teilte Dänemarks Arbeitsminister Dybvad
mit. Das Urteil bestätige jedoch, dass die Richtlinie in mehreren
Punkten zu weit gegangen sei.
Braucht es einen Mindestlohn von 15 Euro in Deutschland?
Unklar ist weiterhin, ob und inwieweit die bereits seit elf Jahren
geltenden nationalen Regelungen im Mindestlohngesetz an EU-Recht
angepasst werden müssen. Im Zusammenhang mit der
EU-Mindestlohnrichtlinie gab es seit längerem die Forderung, dass
Arbeitgeber mindestens 60 Prozent des mittleren Bruttolohns in
Deutschland zahlen. Der mittlere Bruttolohn ist dabei der Lohn, bei
dem die eine Hälfte der Beschäftigten mehr und die andere Hälfte der
Beschäftigten weniger verdienen. Die Mindestlohnrichtlinie sieht vor,
bei der Bewertung der Angemessenheit des Lohns solche Referenzwerte
zugrunde zu legen. Diese Regelung bleibt auch nach dem EuGH-Urteil
bestehen. Bei Verwendung des mittleren Lohns hätte der Mindestlohn in
Deutschland nach Gewerkschaftsangaben eigentlich auf mehr als 15 Euro
angehoben werden müssen.
