Gesetzgebung

Primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht

Bei der Rechtsetzung in der Europäischen Union wirken mehrere Organe zusammen: die Europäische Kommission, der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament. Zur Erarbeitung vieler Rechtsakte werden außerdem der Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Ausschuss der Regionen beratend hinzugezogen.

Die EU-Gesetzgebung unterscheidet sich wesentlich von der nationalen Gesetzgebung. Sie ist geprägt durch sehr langwierige Verfahren und eine große Zahl von Akteuren. Was langfristig auf Europäischer Ebene heißen kann, zeigt das Gesetzgebungsverfahren zur "Europa AG", das mit einer Verfahrensdauer von 30 Jahren Rekordhalter ist.

Obwohl die Verfahren sehr lange dauern, sind die Zeitfenster zur Einflussnahme auf den Gestaltungsprozess oft sehr klein. Angesichts der wenig ausgeprägten europäischen Öffentlichkeit hat sich dabei ein sehr informelles Verfahren entwickelt, das einzelne Interessengruppen dazu zwingt, ständig sehr nah am Geschehen zu sein und ihre Themen genau zu verfolgen.

Die Vorschläge für die Gesetze der EU werden von der Europäischen Kommission erarbeitet und dem Rat der Europäischen Union vorgelegt. Die Kommission allein hat in der Regel das Vorschlagsrecht, das sogenannte „Initiativrecht“. Sie überwacht auch die Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Bei Vertragsverletzungen kann die Kommission Verfahren einleiten, die vor dem Europäischen Gerichtshof enden können: Dessen Urteil muss sich jeder Mitgliedstaat beugen.

Vor dem Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht war der Rat die alleinige gesetzgebende (legislative) Gewalt in der Europäischen Union. Bei der Erarbeitung von Gesetzen war zwar auch das Europäische Parlament beteiligt - im Zweifelsfall behielt aber der Rat das letzte Wort.

Heute arbeiten Rat und Parlament bei der europäischen Gesetzgebung eng zusammen. In vielen Politikbereichen kann der Rat ohne die Zustimmung des Europäischen Parlaments nicht mehr europäisches Recht setzen.

Durch den in Maastricht geschlossenen Vertrag über die Europäische Union und den Vertrag von Lissabon wurde die Stellung des Parlaments entscheidend gestärkt. Besonders wichtig ist dabei das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“ (früher Mitentscheidungsverfahren): es gilt heute als das wichtigste Rechtssetzungsverfahren in der EU und sorgt dafür, dass der Rat und das Parlament in einem mehrstufigen Verfahren gleichberechtigt am Gesetzgebungsprozess beteiligt werden. 

Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren im Einzelnen
Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (früher Mitentscheidungsverfahren) umfasst eine, zwei oder drei Lesungen.

  • Die Kommission schlägt einen Gesetzestext vor.
  • Auf der Grundlage eines Berichts seines zuständigen Ausschusses legt das Europäische Parlament seine Position fest: Häufig modifiziert es den Vorschlag der Kommission mittels Änderungen am Textentwurf. Das ist die erste Lesung.
  • Falls der Rat der EU den Entwurf des Parlaments billigt, gilt der Gesetzesvorschlag als angenommen. Lehnt er sie ab, beschließt er einen "gemeinsamen Standpunkt", den er dem Parlament übermittelt.
  • Das Europäische Parlament, das sich auf eine Empfehlung des zuständigen Ausschusses stützt, äußert sich in zweiter Lesung: Mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder  nimmt es den gemeinsamen Standpunkt des Rates an, lehnt ihn ab oder ändert ihn.
  • Wenn das Parlament den „gemeinsamen Standpunkt“ ändert, nimmt die Kommission Stellung dazu und kann die Änderung ablehnen. Ist dies der Fall, muss der Rat den Änderungen einstimmig zustimmen, damit das Gesetz in Kraft tritt. Wenn auch er die Änderungen ablehnt, wird ein Vermittlungsausschuss einberufen. 
  • Der Vermittlungsausschuss besteht je zur Hälfte aus Rats- und Parlamentsvertretern und versucht innerhalb von sechs Wochen einen gemeinsamen Entwurf zu erarbeiten. Wenn keine Einigung gefunden wird, ist der Gesetzesvorschlag gescheitert. 
  • In den allermeisten Fällen gelangen die beiden Parteien zu einer Einigung in Form eines gemeinsamen Entwurfs.
  • In dritter Lesung müssen sowohl das Parlament als auch der Rat dem durch die Einigung erzielten Entwurf zustimmen. Das Parlament braucht hierfür eine absolute, der Rat eine qualifizierte Mehrheit. Wenn die Mehrheiten nicht erreicht werden, ist der Gesetzesentwurf gescheitert.

Primäres Unionsrecht
Mit dem Vertrag von Lissabon wurde das bestehende EU-Recht überarbeitet. Seit dem setzt sich das Primärrecht der EU aus dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zusammen. In den Verträgen werden die grundlegenden Regelungen rund um die EU aufgeführt. Der EUV konzentriert sich auf grundlegende Bestimmungen der EU. Die einzelnen Zuständigkeitsbereiche werden im AEUV geregelt. Mit dem Vertrag von Lissabon wurden Bereiche wie die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik neu verortet. Darüber hinaus wurde die Grundrechtscharte im Vertrag von Lissabon verankert. 

Auf der Grundlage dieses Primärrechts aus EUV und AEUV beschließt der Rat der EU das sogenannte „Sekundärrecht“. Dieses wird in Form von Richtlinien, Verordnungen und Entscheidungen erlassen und von den EU-Mitgliedstaaten in nationales Recht umgewandelt.

Sekundäres Unionsrecht
Die Handlungsformen der EU nach Art. 288 AEUV sind: Verordnung, Richtlinie, Beschluss, Empfehlung und Stellungnahme.  Von den zuständigen Organen können diese Rechtshandlungen nur dann vorgenommen werden, wenn ihnen das Primärrecht die Befugnis dazu verleiht (Prinzip der beschränkten Einzelermächtigung). Die einzelnen Rechtsakte (mit Ausnahme der unverbindlichen Empfehlungen und Stellungnahmen) müssen auf konkrete Vertragsbestimmungen gestützt werden können. 

Richtlinien legen ein Ziel und einen Zeitrahmen für dessen Umsetzung fest. Sie müssen von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden. Welche Mittel der Mitgliedstaat dabei einsetzt, bleibt ihm überlassen. Wird eine Richtlinie nicht, unvollständig oder nicht rechtzeitig in nationales Recht umgesetzt, können sich Unionsbürger unter bestimmten Voraussetzungen vor den nationalen Gerichten direkt auf sie berufen.

Damit die in der Richtlinie aufgestellten Zielvorgaben für die einzelnen Bürger wirksam werden, ist ein Umsetzungsakt durch den nationalen Gesetzgeber erforderlich, mit dem das nationale Recht an die in der Richtlinie festgelegten Ziele angepasst wird. Der einzelne Bürger wird grundsätzlich erst durch den Rechtsakt, der zur Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht führt, berechtigt und verpflichtet.

Die Mitgliedstaaten haben wegen der Bindung nur an die Zielvorgaben der Richtlinie bei ihrer Umsetzung in nationales Recht einen Gestaltungsspielraum, um den jeweiligen nationalen Besonderheiten Rechnung tragen zu können. Es besteht eine Umsetzungspflicht innerhalb der in der Richtlinie festgesetzten Frist. Bei der Umsetzung von Richtlinien müssen die Mitgliedstaaten die innerstaatlichen Formen wählen, die für die Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts am besten geeignet sind (Art. 4 (3) EUV, "effèt utile").

Richtlinien müssen in verbindliche innerstaatliche Rechtsvorschriften umgesetzt werden, die den Erfordernissen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit genügen und für den Einzelnen eine einklagbare Rechtsposition begründen. 

Verordnungen gelten nach ihrer Verabschiedung direkt in allen EU-Mitgliedstaaten. Sie sind für die Mitgliedstaaten, ihre Behörden und Organe unmittelbar verbindlich. Steht eine Verordnung im Konflikt mit einem nationalen Gesetz, so hat die Verordnung Vorrang. Entscheidungen richten sich direkt an einen bestimmten Adressaten und sind für diesen direkt in allen ihren Teilen verbindlich.

Verordnungen sind als "Gesetze der Gemeinschaften" von ihren Adressaten (Einzelpersonen, Mitgliedstaaten, Gemeinschaftsorgane) in vollem Umfang zu befolgen. Eine Verordnung gilt, ohne dass es eines nationalen Umsetzungsaktes bedarf, unmittelbar in allen Mitgliedstaaten aufgrund der Veröffentlichung im Amtsblatt der EU.

Die Verordnung dient der Gewährleistung einer einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten. Zugleich werden durch sie mitgliedstaatliche Regelungen von der Anwendbarkeit ausgeschlossen, die inhaltlich mit dem Regelungsgegenstand der Verordnung unvereinbar sind. Mitgliedstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften sind nur insoweit zulässig, als dies in der Verordnung vorgesehen oder sonst zu ihrer wirksamen Durchführung erforderlich ist. 

Beschlüsse dienen der Regelung konkreter Sachverhalte gegenüber bestimmten Adressaten. Adressaten eines Beschlusses können Mitgliedstaaten oder natürliche sowie juristische Personen sein.  Ebenso wie Richtlinien können Beschlüsse Verpflichtungen für einen Mitgliedstaat enthalten, dem einzelnen Bürger eine günstigere Rechtsstellung einzuräumen. In diesem Fall bedarf es zur Begründung von Ansprüchen Einzelner - ebenso wie bei der Richtlinie - eines Umsetzungsaktes seitens des betroffenen Mitgliedstaates. Beschlüsse können unter den gleichen Voraussetzungen wie Richtlinienbestimmungen unmittelbar anwendbar sein.

Empfehlungen und Stellungnahmen sind nicht verbindlich und begründen für den Empfänger keine Rechte und Pflichten.

Von der EU abgeschlossene völkerrechtliche Verträge
Die Gemeinschaft besitzt gemäß Art. 47 EUV die partielle Völkerrechtsfähigkeit und kann daher im Rahmen ihrer Kompetenz mit Drittstaaten oder internationalen Organisationen völkerrechtliche Verträge abschließen. Die auf diesem Wege von der Gemeinschaft abgeschlossenen Verträge sind für die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten verbindlich und integrativer Bestandteil des Gemeinschaftsrechts.

Acquis communautaire
Das gesamte rechtliche Regelungsgefüge, das die EU ausmacht, mitsamt allen Rechten und Pflichten der EU-Mitgliedstaaten, wird als "Acquis communautaire" bezeichnet. Vor ihrem Beitritt zur Europäischen Union müssen die Beitrittsländer den "Acquis communautaire" akzeptieren und in ihre Gesetzgebung aufnehmen.
Der "Acquis communautaire" ist das gemeinsame Fundament aus Rechten und Pflichten, die für alle Mitgliedstaaten der EU verbindlich sind. Dieser Besitzstand entwickelt sich ständig weiter und umfasst:

  • den Inhalt, die Grundsätze und die politischen Ziele der Verträge;
  • die in Anwendung der Verträge erlassenen Rechtsvorschriften und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs;
  • die Verordnungen, Richtlinien, Empfehlungen und Beschlüsse, die von den EU-Organen erlassen werden.

Der gemeinschaftliche Besitzstand umfasst also nicht nur das Gemeinschaftsrecht im engeren Sinne, sondern auch alle Rechtsakte, die im Rahmen des zweiten und dritten Pfeilers der Union erlassen werden, sowie die in den Verträgen festgeschriebenen gemeinsamen Ziele. Die Union hat sich zum Ziel gesetzt, 
den gemeinschaftlichen Besitzstand zu wahren.