Mehrwertsteuer

Ein Provisorium von Dauer

Ohne vorherige Beseitigung vieler Handelshemmnisse wäre eine Öffnung der Grenzen für Menschen, Waren, Dienstleistungen und Kapital im Binnenmarkt nicht möglich gewesen. Dies gilt besonders für die steuerlichen Schranken zwischen den EU-Staaten. Wären die Grenzen ohne Harmonisierung der Steuern geöffnet worden, hätte dies zu Wettbewerbsverzerrungen, zu Umsatzrückgängen im Handel und zu Steuerausfällen geführt. Von der Harmonisierung sind in erster Linie die indirekten Steuern betroffen, also die Steuern, die beim Erwerb einer Ware oder Dienstleistung anfallen.

Im Rahmen der Steuerharmonisierung wurde die Zusammenarbeit der Finanzverwaltungen der Mitgliedstaaten verstärkt. So wurden bereits Richtlinien über die gegenseitige Amtshilfe beschlossen. In dem Maße, in dem die Steuergrenzen weiter fallen, wird auch die Zusammenarbeit der Finanzverwaltungen gestärkt werden.

Die direkten Steuern, also die Lohn-, Einkommens- und Körperschaftssteuer, sind von der Steuerharmonisierung weitestgehend unberührt geblieben. Lediglich im Bereich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Unternehmen gibt es bisher zwei Richtlinien: Die sogenannte „Mutter-Tochter-Richtlinie“ sieht vor, dass der Gewinn von Firmen, bei denen Mutter- und Tochtergesellschaft jeweils in verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ansässig sind, nicht zweimal besteuert werden. Die Harmonisierungsbestrebungen der EU bei den direkten Steuern werden sich auch in Zukunft auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Unternehmen konzentrieren. Ziel ist es, den Betrieben zu ermöglichen, in der gesamten Europäischen Union tätig zu werden, ohne durch Steuervorschriften behindert zu werden.

Die Mehrwertsteuer
Für die Mehrwertsteuer gilt seit dem 1. Januar 1993 EU-weit eine Übergangsregelung, die einen Mindestsatz von 15 Prozent vorsieht. Die ermäßigten Mehrwertsteuersätze müssen mindestens fünf Prozent betragen. Dies betrifft unter anderem Zeitungen, Bücher, Nahrungsmittel und Medikamente. Die Steuerharmonisierung macht sich vor allem bei Reisen ins EU-Ausland bemerkbar: Zollkontrollen an den Binnengrenzen gibt es nicht mehr. Verbraucher können Waren für den privaten Verbrauch überall in der Europäischen Union kaufen und ohne weitere Formalitäten über die Grenzen mitnehmen.

Für private Einkäufe greift dabei bereits das „Ursprungslandprinzip“: Verbraucher zahlen die Mehrwertsteuer in dem Land, in dem sie das Produkt kaufen. Ausnahmen gibt es beim Erwerb von Neuwagen und im Versandhandel. Anders als beim privaten Einkauf zahlen Unternehmen die Umsatzsteuer derzeit noch in dem Land, in das die Ware eingeführt wird. Für sie gilt für die Übergangsphase noch das „Bestimmungslandprinzip“.

Aber auch im gewerblichen Bereich gibt es an den Grenzen keine Kontrollen mehr. Die Formalitäten werden jetzt in den Unternehmen erledigt. Dazu erhalten die Unternehmen eine „Umsatzsteuer-Identifikations-Nummer“. Ziel ist es immer noch, auch für gewerbliche Waren das Ursprungslandprinzip einzuführen. Dies war auch zunächst das Ziel der Europäischen Kommission als sie Ihre Vorschläge zur Anpassung des Mehrwertsteuersystems an die Anforderungen des Binnenmarktes vorlegte. Diese Vorschläge erwiesen sich jedoch als nicht konsesfähig. Sie hätten erheblichen Mehreinnahmen für den Fiskus in Deutschland und in den Benelux-Staaten geführt, andere Länder hätten erhebliche Verluste bei den Einnahmen aus der Mehrwertsteuer erlitten.


Zur Mehrwertsteuer in Binnenmarkt im einzelnen:

Ursprüngliche Vorschläge
Die ursprünglich (1987) von der Kommission vorgeschlagene Lösung (KOM(87)322) beinhaltete eine Veränderung bei dem sogenannten "Prinzip des Ursprungsorts". Anstatt den Nullsatz anzuwenden, würden mehrwertsteuerpflichtige Transaktionen zwischen Mitgliedstaaten die bereits im Ursprungsland erhobene Steuer enthalten, die die Händler dann auf dem üblichen Wege als Vorsteuer abziehen könnten. Theoretisch hätte dies dazu geführt, dass Waren, die z.B. zwischen England und Frankreich oder Frankreich und Deutschland transportiert werden, genauso behandelt werden wie Waren, die zwischen England und Schottland bzw. Bayern und Baden-Württemberg transportiert werden. Ein großer Unterschied hätte jedoch weiterbestanden: die in England und Schottland gezahlte Mehrwertsteuer fließt derselben Staatskasse zu, die in England und Frankreich gezahlte Mehrwertsteuer jedoch zwei verschiedenen Staatskassen. Schätzungen machten deutlich, dass es beträchtliche Transfers von Steuereinnahmen, insbesondere nach Deutschland und in die Beneluxländer, aus den übrigen Ländern gegeben hätte. Daher schlug die Kommission die Schaffung eines Clearing-Systems (KOM(87)0323) vor, um die in den Ursprungsländern eingenommene Mehrwertsteuer wieder den Ländern des Verbrauchs zuzuweisen. Dieses System hätte auf Mehrwertsteuereinnahmen, auf makroökonomischen Statistiken oder auf Stichprobentechniken beruhen können.

Das Übergangssystem
Die Kommissionsvorschläge erwiesen sich jedoch als inakzeptabel für die Regierungen der Mitgliedstaaten. In der zweiten Hälfte von 1989 zeigte eine vom Rat einberufene hochrangige Arbeitsgruppe eine Alternative auf, die auf das Prinzip des Bestimmungsorts für Transaktionen mit für Zwecke der MwSt registrierten Händlern zurückgriff. Dies wurde die Grundlage des von der Kommission im folgenden Jahr vorgeschlagenen Übergangssystems, das Anfang 1993 in Kraft trat (Richtlinien 91/680/EWG vom 16. Dezember 1991 und 92/111/EWG vom 14. Dezember 1992). Das Prinzip des Ursprungsorts gilt jedoch im allgemeinen für alle Verkäufe an den Endverbraucher: das heißt, ist die Mehrwertsteuer einmal auf Waren in einem Land gezahlt, so können diese Waren innerhalb der Gemeinschaft ohne weitere Kontrollen oder Steuerverbindlichkeit transportiert werden. Anfang 1993 wurden daher die Mehrwertsteuerfreibeträge für Reisende abgeschafft bzw. auf das Unendliche angehoben. Es gibt drei "Sonderregelungen", für die dieser Grundsatz nicht gilt:

Fernverkäufe: Versandhäuser oder ähnliche Unternehmen, die Verkäufe über eine bestimmte Schwelle in einen Mitgliedstaat liefern, müssen die Mehrwertsteuer zu dem in diesem Land (d.h. wohin die Waren geliefert werden) angewandten Satz entrichten. Wenn nötig, müssen sie "Steuerbevollmächtigte" benennen, die für die Entrichtung der Steuer verantwortlich sind.
Steuerbefreite juristische Personen: d.h. Krankenhäuser, Banken, öffentliche Behörden usw. Wenn diese Gruppe Waren über einen bestimmen Schwellenwert aus einem anderen Mitgliedstaat kauft, muss sie die Mehrwertsteuer darauf zu ihrem Inlandssatz bezahlen, trotz der Tatsache, dass die Lieferungen theoretisch von der Steuer befreit sind (d.h. nicht der Verkäufer, sondern der Käufer ist für die Abgabe verantwortlich).
Neue Verkehrsmittel: Boote, Flugzeuge und Autos, die weniger als sechs Monate alt sind, sind im Land des Käufers zu besteuern, selbst wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat erworben wurden.

Das Prinzip des Bestimmungsorts gilt ferner weiterhin für die meisten Transaktionen zwischen eingetragenen Händlern. Obwohl Steuerkontrollen an Grenzen abgeschafft wurden, müssen die Händler ausführliche Verzeichnisse der Käufe aus anderen Ländern und Verkäufe in andere Länder führen, und das System wird durch die administrative Zusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten verwaltet.

Auf dem Weg zu einem "endgültigen" System
Ursprünglich sollte dieses Übergangssystem bis Ende 1996 gelten. In Artikel 35a (der geänderten 6. Mehrwertsteuerrichtlinie) wurde die Kommission aufgefordert, bis Ende 1994 "Vorschläge für ein endgültiges System vorzulegen", und der Rat wurde aufgefordert, bis Ende 1995 darüber zu beschließen. Es wurden jedoch keine formellen legislativen Vorschläge gemacht. Stattdessen veröffentlichte die Kommission zwei Diskussionsdokumente:

"Ein gemeinsames Mehrwertsteuersystem: ein Programm für den Binnenmarkt" (KOM(96)328 endg. vom 22. Juli 1996). Dieses Dokument umriss einen Zeitplan, der von Ende 1996 bis Mitte 1999 reichte, in dessen Verlauf das neue System in verschiedenen Stufen eingeführt werden sollte.

"Beschreibung der allgemeinen Grundsätze, technische Aufzeichnung der Dienststellen der Kommission" (XXI/1156/96), die auf einer Sonderkonferenz am 4./5. November 1996 vorgestellt wurde. Die wesentlichen Punkte sind:

- Der "Besteuerungsort" wird nicht länger der Ort sein, an dem die Waren sich befinden oder wo die Dienstleistungen erbracht werden, sondern der Ort, an dem sich das Unternehmen des Lieferanten befindet.
- Abrechnung und Vorsteuerabzug erfolgen nach dem Ursprungssystem.
- Die Mehrwertsteuersätze werden "innerhalb einer eher engeren Bandbreite" harmonisiert.
- Die Zuweisung der Mehrwertsteuereinnahmen wird vom Mehrwertsteuersystem selbst getrennt und entsprechend den nationalen Verbrauchsstatistiken durchgeführt.
- Die 6. Richtlinie wird überprüft, um das System einfacher, mit weniger Ausnahmeregelungen, Befreiungen, Optionen und Sonderregelungen zu gestalten.
- Es werden Schritte ergriffen, um unterschiedliche nationale Auslegungen der Mehrwertsteuergesetzgebung zu vermeiden; die Rolle des Mehrwertsteuerausschusses soll verstärkt und die Zusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden verbessert werden.
Um das letztgenannte Ziel zu erreichen, wurde ein Vorschlag für eine Richtlinie vorgelegt, durch den der Ausschuss für Mehrwertsteuer, der sich unter dem Vorsitz der Kommission aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzt, mehr Beschlussbefugnisse erhalten soll (KOM(97)325). Inzwischen wurden neue Vorschläge, durch die die 8. Mehrwertsteuerrichtlinie durch ein Vorsteuerabzugssystem im Eintrageland ersetzt werden soll, und ein damit in Zusammenhang stehender Vorschlag betreffend die Berechtigung zum Vorsteuerabzug veröffentlicht (KOM(98)377). Ferner wurde 1998 eine Vereinfachung des "Steuervertretungssystems" (KOM(1998) 660) veröffentlicht. Außerdem nahm der Rat am 12. Oktober 1998 einen Beschluss über die Besteuerung von Gold (KOM(92)441) an. Mehrere andere Fragen sind indessen nach wie vor ungelöst: Steuerbefreiungsgrenzen für KMU (KOM(87)525), die Besteuerung des Personenverkehrs (KOM(92)416) und verschiedener Non-Food-Agrarerzeugnisse (Wolle, Blumen, Holz) (KOM(94)584).

Durch die steigende Bedeutung der Informationstechnologie wurde es erforderlich, der Anwendung der Mehrwertsteuer auch in diesem Bereich verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen. Im Anschluss an einen Beschluss des Rates, anstelle der normalen Bestimmungen der 6. Richtlinie eine vorläufige Ausnahmeregelung in Form einer "Gebührenumkehr" (die in Kraft bleibt) anzuwenden, schlug die Kommission eine Richtlinie im Hinblick auf das für Telekommunikationsdienstleistungen anwendbare Mehrwertsteuersystem (KOM(97)004) vor. Außerdem hat die Kommission eine Mitteilung zum Elektronischen Handel und indirekten Steuern (KOM(98)374 endg) und einen Vorschlag für eine Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr (KOM(2000) 349) veröffentlicht.

Im allgemeinen hat die Kommission ihren Schwerpunkt jetzt von einer Umstellung auf ein "endgültiges" System auf Maßnahmen zur Verbesserung der geltenden "Übergangs"-Vereinbarungen verlagert. Im Juni 2000 veröffentlichte sie eine Mitteilung über eine Strategie zur Verbesserung der Funktionsweise des MwSt-Systems im Rahmen des Binnenmarkts (KOM(2000) 348), in der eine neue Liste von Prioritäten und ein Zeitplan für Beschlüsse dargelegt wird.

Mehrwertsteuersätze

Die ursprünglichen Kommissionsvorschläge über die Mehrwertsteuersätze (KOM(87)321) waren für die "Annäherung" innerhalb zweier Steuerbandbreiten: ein Standardsatz zwischen 14% und 20% und ein ermäßigter Satz zwischen 5% und 9%. Die Hauptbestimmungen der Richtlinie 92/77/EWG vom 19.Oktober 1992 sahen jedoch folgendes vor:

- einen Mindeststandardsatz von 15%, der alle zwei Jahre überprüft werden soll;
- die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, entweder einen einzigen oder zwei ermäßigte Sätze über 5% auf die in Anhang H der geänderten 6. Mehrwertsteuerrichtlinie aufgeführten Waren und Dienstleistungen;
- Ausnahmeregelungen für bestimmte Mitgliedstaaten, nämlich Anwendung eines Nullsatzes, eines "superermäßigten" Satzes oder eines "geparkten" (nämlich vorläufigen) Steuersatzes bis zur Einführung eines endgültigen Mehrwertsteuersystems;
- die Abschaffung von "Luxus"- bzw. höheren Sätzen.
Der erste Kommissionsbericht (KOM(94)584) über die Ergebnisse dieser Vereinbarung zog den Schluss, dass dieses System zufriedenstellend funktioniert. Seit 1. Januar 1993 gab es weder wesentliche Veränderungen der grenzüberschreitenden Kaufmuster noch irgendwelche wesentlichen Wettbewerbsverzerrungen oder Umlenkungen der Handelsströme durch Disparitäten in den Mehrwertsteuersätzen. Daher schlug die Kommission (KOM(95)731) keine Änderung des 15%-Mindestsatzes vor, sondern eine neue Höchstrate von 25%. Der Rat akzeptierte im Dezember 1996 den ersten dieser Vorschläge, kam jedoch lediglich überein, "jede mögliche Anstrengung" zu unternehmen, um nicht die derzeitige 10%-Spanne zu erweitern. Im Bericht der Kommission aus dem Jahr 1997 über die Funktionsweise des Mehrwertsteuersystems (KOM(97)559) wurden keine neuen Vorschläge zu den den Mehrwertsteuersätzen vorgelegt. 1998 wurde jedoch ein erneuter Vorschlag zur Festlegung der MwSt-Sätze innerhalb einer Bandbreite von 15% bis 25% vorgelegt (KOM(1998) 693), obwohl dieser anschließend vom Rat abgelehnt wurde.

Im November 1997 erschien allerdings eine Mitteilung zum Thema "Arbeitsplatzbeschaffung: Möglichkeit eines niedrigeren Mehrwertsteuersatzes auf arbeitsintensive Dienstleistungen während eines Versuchszeitraums und auf freiwilliger Basis" (SEK(97)2089), und 1999 wurde ein formaler Vorschlag vorgelegt (KOM(1999) 62), dem der Rat für ein begrenztes Spektrum von Dienstleistungen und einen Versuchszeitraum zustimmte.

Es gab viel Polemik hinsichtlich der weiteren Anwendung eines Mehrwertsteuer-Nullsatzes auf bestimmte Waren und Dienstleistungen, insbesondere im VK und in Irland. Eine besondere Ausnahmeregelung in Artikel 28 der 6. Richtlinie verweist auf Artikel 17 der 2. Mehrwertsteuerrichtlinie vom 11. April 1967. Die bereits am 31. Dezember 1975 in Kraft befindlichen Nullsätze können weiterhin angewandt werden, sofern

- sie aus klar definierten sozialen Gründen bestehen;
- sie dem Endverbraucher zugute kommen und
- das "Ursprungsprinzip"noch nicht allgemein angewandt wird.
Schweden und Finnland haben das Recht, weiterhin einen Nullsatz anzuwenden, wo ein anderer Mitgliedstaat diesen Nullsatz bereits auf dieselben Erzeugnisse oder Transaktionen anwendet.