Parlamente der Mitgliedstaaten

Demokratiedefizit: Schleichende Aushöhlung der Gesetzgebungsbefugnisse

Durch die Übertragung von Zuständigkeiten, die bisher bei den Mitgliedstaaten lagen, an gemeinsame, über Entscheidungsbefugnisse verfügende Institutionen hat das Europäische Einigungswerk zu einer Minderung der Rolle der nationalen Parlamente sowohl in ihrer Eigenschaft als Gesetzgeber, als auch als Haushaltsbehörde und als Kontrollinstanz über die Exekutive geführt. Die nationalen Parlamente empfanden diese Einbuße an Einfluss immer mehr als besorgniserregend und sahen in einer besseren nationalen Kontrolle der europäischen Politik ihrer Regierungen und in einer Annäherung an das Europäische Parlament (EP) eine Möglichkeit, einen Teil des verlorenen Einflusses zurückzugewinnen und gemeinsam die demokratische Kontrolle des europäischen Aufbauwerks sicherzustellen.

Die Kompetenzverlagerung von der nationalen auf die europäische Ebene vollzog sich im wesentlichen zugunsten des Rates, während dem EP nicht die Befugnisse eingeräumt wurden, die es ihm ermöglicht hätten, auf Gemeinschaftsebene die Rolle eines Parlaments voll und ganz zu übernehmen. Dadurch entstand ein strukturelles "Demokratiedefizit", das vom Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten.

Die Rolle der nationalen Parlamente wurde mit den Fortschritten des Europäischen Einigungswerks weiter eingeschränkt: Verstärkung der steuerlichen und haushaltspolitischen Befugnisse der Gemeinschaft in den Jahren 1970 und 1975, Zunahme der Mehrheitsentscheidungen im Rat und der Legislativbefugnisse des EP durch die Einheitliche Akte im Jahre 1987 und den Vertrag von Maastricht im Jahre 1993, Entwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und innere Angelegenheiten aufgrund desselben Vertrags, erneute Ausweitung der Befugnisse des EP mit dem Amsterdamer Vertrag vom Oktober 1997.

Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament
Bis 1979 gab es zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten eine organische Verbindung, da die Abgeordneten des EP von den nationalen Parlamenten aus ihrer Mitte bestimmt wurden. Mit der Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments wurde diese Verbindung abgebrochen. Während eines Jahrzehnts gab es praktisch keine Beziehungen mehr, und erst 1989 wurde wieder der Wunsch nach Wiederaufnahme der Verbindung wach: Man bemühte sich, ein Instrumentarium zu schaffen, das an die Stelle der organischen Verbindung der Anfangsjahre treten würde. Der Vertrag von Maastricht hat dazu beigetragen, indem zwei "Erklärungen" (Nr. 13 und 14) der Frage gewidmet wurden, die insbesondere folgendes vorsehen:

  • den Respekt der Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäischen Union (die nationalen Parlamente müssen von den Regierungen der Mitgliedstaaten "rechtzeitig" über die Vorschläge für gemeinschaftliche Rechtsakte informiert werden und erforderlichenfalls gemeinsame Konferenzen abhalten);
  • die Zusammenarbeit zwischen dem EP und den nationalen Parlamenten (durch eine Intensivierung der Kontakte, den Austausch von Informationen, die Abhaltung regelmäßiger Zusammenkünfte und ggf. durch die Einräumung geeigneter gegenseitiger Erleichterungen).

In jüngster Zeit haben die nationalen Parlamente ein gewisses Kontrollrecht über die Tätigkeit ihrer Regierungen auf Gemeinschaftsebene erhalten, entweder aufgrund von Verfassungsreformen oder von Regierungsverpflichtungen oder aber durch Änderungen in ihrer eigenen Funktionsweise. Ihre für europäische Angelegenheiten zuständigen nationalen Ausschüsse haben bei dieser Entwicklung sowie bei der Zusammenarbeit mit dem EP eine größere Rolle gespielt.

Das Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente im Anhang zum Amsterdamer Vertrag befürwortet eine größere Beteiligung der nationalen Parlamente an den Tätigkeiten der EU und sieht zu diesem Zweck eine raschere Übermittlung der Konsultationsdokumente und Legislativvorschläge der Kommission vor, um den nationalen Parlamenten eine Prüfung dieser Vorschläge vor der Beschlussfassung durch den Rat zu ermöglichen.

Heute findet eine Konzertierung zwischen den meisten ständigen Ausschüssen des EP und den entsprechenden Ausschüssen in den nationalen Parlamenten gemeinsamen Sitzungen oder über Besuche von Vorsitzenden oder Berichterstattern statt. Die wechselseitige Information über die Arbeiten der Parlamente, insbesondere auf Gesetzgebungsebene, nimmt einen wachsenden Stellenwert ein.

Das Instrumentarium der Zusammenarbeit
Konferenzen der Präsidenten der parlamentarischen Versammlungen der Europäischen Union
wurden 1981 als feste Einrichtung eingeführt. Diese Konferenzen, an denen die Präsidenten der nationalen Parlamente und der Präsident des EP teilnehmen, finden alle zwei Jahre statt. Es gehen ihnen vorbereitende Treffen der Generalsekretäre der betreffenden Parlamente voraus, und auf den Konferenzen werden konkrete Fragen der Zusammenarbeit zwischen dem EP und den nationalen Parlamenten behandelt. In den letzten Jahren sind die Präsidenten in recht kurzen Abständen (etwa alle sechs Monate) auch informell zusammengetroffen, wenn wichtige politische Ereignisse anstanden.

1977 wurde in Wien die Gründung des Europäischen Zentrums für Parlamentarische Wissenschaft und Dokumentation (EZPWD) beschlossen: Dabei handelt es sich um ein Netz von Bibliotheken und Forschungsstellen, die eng zusammenarbeiten, um den Zugang zur Information (einschließlich der nationalen und gemeinschaftlichen Datenbasen) zu erleichtern und die Forschung zu koordinieren. Das Zentrum wird vom EP und der Parlamentarischen Versammlung des Europarats gemeinsam geleitet.

Der Vorläufer Konferenz der Parlamente der Europäischen Gemeinschaft fand im Jahre 1990 in Rom unter der Bezeichnung der "Europäischen Assisen" statt. An dieser Konferenz zum Thema "Die Zukunft der Gemeinschaft. Die Auswirkungen der Vorschläge zur Wirtschafts- und Währungsunion sowie zur Politischen Union für die Europäische Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments" nahmen 258 Teilnehmer, nämlich 173 Mitglieder der nationalen Parlamente und 85 Mitglieder des Europäischen Parlaments, teil. Die "Europäischen Assisen" wurden bisher nicht wieder einberufen.

Die Konferenz der für Fragen der Europäischen Gemeinschaften zuständigen parlamentarischen Fachorgane (COSAC), die ursprünglich vom Präsidenten der französischen Nationalversammlung vorgeschlagen wurde, findet seit 1989 alle sechs Monate statt und vereinigt die für Fragen der Europäischen Gemeinschaften zuständigen Fachorgane der nationalen Parlamente und sechs Mitglieder des EP, an deren Spitze die beiden Vizepräsidenten stehen, die für die Beziehungen zu den nationalen Parlamenten zuständig sind. Auf dieser Konferenz, die vom Parlament des Landes, das die Präsidentschaft in der Gemeinschaft innehat, einberufen wird und die gemeinsam vom EP und den Parlamenten der "Troika" vorbereitet wird, werden wichtige Fragen der europäischen Integration behandelt. Die COSAC ist kein Entscheidungsorgan, sondern dient der Konsultation und parlamentarischen Koordination. Ihre Beschlüsse fasst die Konferenz einvernehmlich.