Der EU-Reformvertrag

Chance verpasst: Nicht bürgernäher, sondern komplizierter

Der deutschen EU-Ratspräsidentschaft gelang es im Juni 2007 auf dem Gipfel des Europäischen Rates in Brüssel, den Prozess für eine Europäische Verfassung neu anzustoßen. Allerdings bestand unter den 27 EU-Mitgliedstaaten schon zu Beginn des Gipfels Einigigkeit, dass der Begriff "Verfassung" in Zukunft nicht mehr verwendet werden soll.

Die wesentlichen Inhalte des Europäischen Verfassungsvertragsentwurfes (VVE) sollten durch eine Reform der gültigen Verträge in einen Grundlagenvertrag der EU eingearbeitet werden.

Eine neuerliche EU-Regierungskonferenz entwarf bis Oktober 2007 einen EU-Reformvertrages auf der Basis des im Juni 2007 beschlossenen Mandates des Europäischen Rates. Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten einigten sich auf dem Gipfel am 18. und 19. Oktober 2007 in Lissabon politisch auf einen neuen Grundlagenvertrag der EU.

Wermutstropfen: Während man sich bei der Formulierung der EU-Verfassung noch um verständliche Formulierungen bemührt hatte, ist der Reformvertrag nur noch für Experten lesbar.

Die schwierigen Punkte waren:

Einer der strittigsten Punkte war der künftige Abstimmungsmodus bei Mehrheitsentscheidungen im EU-Ministerrat. Der Verfassungsentwurf sah hier das Prinzip der doppelten Mehrheit vor: Beschlüsse erfordern danach eine Mehrheit von 55 Prozent der Mitgliedsländer, welche 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.

Fast wäre der Gipfel im Juni 2007 an diesem Punkt gescheitert. Der polnische Staatspräsident Lech Kaczyński - welcher im telefonischen Kontakt mit dem polnischen Ministerpräsidenten und seinem Zwillingsbruder Jarosław Kaczyński gewesen war - tat sich damit schwer und wollte sogar ein Veto einlegen.

Nach dem bisher geltenden Nizza-Vertrag hat das Land mit rund 40 Millionen Einwohnern 27 Stimmen im Rat. Deutschland mit fast doppelt so vielen Einwohnern verfügt über 29 Stimmen. Mit dem System der doppelten Mehrheit verliert Polen Stimmen im Rat. Deutschland dagegen gewinnt an Gewicht.

Ein Komprimiss wurde gefunden. Die doppelte Mehrheit wird erst 2014 in Kraft treten. In Streitfällen können sich Staaten außerdem noch bis 2017 auf den geltenden Nizza-Vertrag berufen und den Aufschub einer unliebsamen Entscheidung fordern.

Die britische Regierung wiederum hatten Bedenken gegen die Rechtsverbindlichkeit der EU-Grundrechte-Charta. Sie solle nicht verbindliches britisches Recht werden, war das Argument. Deshalb sollte sie auch nicht im reformierten Vertragswerk erscheinen.

Die Grundrechte-Charta ist aufgrund des britischen Einspruches nicht mehr Teil der Verträge. Allerdings wird sie durch einen Verweis verbindlich. Ausnahmeregelungen gelten außer für Großbritannien auch für Polen. Zudem strebt die tschechische Regierung ebenfalls Sonderregelungen für ihr Land an.

Die Berufung eines EU-Außenministers als oberster Chefdiplomat der EU stieß auf britische Bedenken. Der EU-Außenminister wird daher offiziell "Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik" genannt. Diese Position vereint die Funktionen des EU-Außenbeauftragten und des EU-Außenkommissars in einem Amt.

Vor dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon hatten der Spanier Javier Solana (Hoher Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU [GASP]) und die Österreicherin Benita Ferrero-Waldner (Kommissarin für die Außenbeziehungen und die EU-Nachbarschaftspolitik) diese Posten inne. Mit dem neuen Amt bekommt die EU-Außenpolitik erstmals ein einheitliches Gesicht. Zur ersten "Hohen Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik" wurde die Britin Catherine Ashton bestimmt.

Im neuen Vertragswerk existieren keine staatsähnlichen Symbole (EU-Flagge) und keine (Europa-)Hymne.

Weitere Reformen:

Seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon hat die EU einen ständigen Ratspräsidenten. Der Europäische Präsident leitet zweieinhalb Jahre den Europäischen Rat. Damit gibt es keine rotierende Präsidentschaft mehr und damit mehr Kontinuität.

Die nationalen Kompetenzen werden gestärkt: Innerhalb von acht Wochen können nationale Parlamente der EU-Mitgliedstaaten gegen beabsichtigte Rechtsakte der EU Einspruch erheben. Falls sie meinen, dass diese nationale Zuständigkeit verletzen. Damit wird insbesondere das Subsidiaritätsprinzip gestärkt.

Das Europäische Parlament entscheidet seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon gleichberechtigt mit dem Rat der Europäischen Union (Ministerrat) über den EU-Haushalt; im Gesetzgebungsverfahren ist das Mitentscheidungsverfahren mittlerweile der Regelfall. Damit ist das Europäische Parlament als Vertreter der Bürgerinnen und Bürger Europas gleichberechtigt gegenüber dem Rat der Europäischen Union.

Die Zahl der Kommissarinnen und Kommissare soll kleiner werden: Statt wie bisher aus jedem EU-Mitgliedstaat werden die Kommissarinnen und Kommissare bis 2014 aus zwei Drittel der Mitgliedstaaten kommen.

Staaten - wie Großbritannien - können aus EU-Beschlüssen über engere Zusammenarbeit in Fragen der Justiz- und Polizeizusammenarbeit aussteigen. Auch in der Sozialpolitik können Staaten aus der gemeinsamen Politik ausscheren. Wenn innerhalb von vier Monaten keine Einigung erreicht wird, können jene Staaten, die das wollen, vorangehen.

Das EU-weite Bürgerbegehren wird eingeführt.

Weitere Informationen:

- Wichtigste Änderungen des Vertrags von Lissabon

- Die Vertragstexte im Überblick

- Ratsentscheidungen nach den Lissabon-Regeln simuliert der Online-Rechner von EU-Info.de