Von der Verfassung zum Vertrag von Lissabon

Die Entscheidungen unter deutscher Präsidentschaft 2007

Die wesentlichen Vorarbeiten für den Vertrag von Lissabon wurden unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 geleistet. Der Durchbruch gelang während des Gipeltreffens Ende Juni in Brüssel. Mit der Verabschiedung eines "Mandats für die Regierungskonferenz" vereinbarten die 27 Unionsmitglieder, bis Ende des Jahres einen Reformvertrag auszuhandeln.

Gleichzeitig hatte man sich von dem Gedanken einer Europäischen Verfassung verabschiedet. Deren Ablehnung bei Volksabstimmungen in Frankreich am 29. Mai 2005 und in den Niederlanden am 1. Juni 2005 interpretierten einige EU-Mitgliedsländer als Angst der Bürgerinnen und Bürger vor einem europäischen Superstaat. Dieser Angst galt es zu begegnen. Die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Mitgliedstaaten waren sich einig, dass der Begriff "Verfassung" nicht weiter verwendet werden konnte.

Ambitionierter Fahrplan

Nach einer längeren "Denkpause", die sich die Europäische Union verordnet hatte, übernahm Deutschland am 1. Januar 2007 turnusgemäß die Ratspräsidentschaft. Bereits Mitte 2006 war die Bundesregierung vom Europäischen Rat beauftragt worden, einen Fahrplan für eine Vertragsreform zu erarbeiten. Ziel war es, die im Verfassungsvertrag vorgesehenen Reformen in der Union möglichst schnell umzusetzen. Der geplante "Reformvertrag" sollte schon zur Wahl des Europäischen Parlaments im Jahre 2009 gelten - ein für europäische Verhältnisse äußerst ambitionierter Zeitplan.

Fast 36 Stunden wurde Ende Juni in Brüssel verhandelt. Zum Abschluss der Gespräche konnte die Bundeskanzlerin und damalige EU-Ratspräsidentin Angela Merkel verkünden: "Wir haben geschafft, was wir wollten." Europa sei aus dem Stillstand herausgekommen, das erreichte Ergebnis ein "Gemeinschaftswerk".

Das "Mandat für eine Regierungskonferenz" sah vor, die Vertragsverhandlungen im zweiten Halbjahr 2007 unter portugiesischer Ratspräsidentschaft abzuschließen. Das Mandat enthielt bereits konkrete Anweisungen für die Gestaltung des neuen Reformvertrags, der als "Vertrag von Lissabon" bezeichnet wird.

Streit über die Einführung der "doppelten Mehrheit"

Einer der problematischsten Punkte war der künftige Abstimmungsmodus bei Mehrheitsentscheidungen im EU-Ministerrat. Der Verfassungsentwurf sah hier das Prinzip der doppelten Mehrheit vor: Beschlüsse erfordern demnach eine Mehrheit von 55 Prozent der Mitgliedsländer, welche 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.

Fast wäre der Gipfel im Juni 2007 an diesem Punkt gescheitert. Der polnische Staatspräsident Lech Kaczyński - der im telefonischen Kontakt mit dem polnischen Ministerpräsidenten und seinem Zwillingsbruder Jarosław Kaczyński gewesen war - tat sich damit schwer und wollte sogar ein Veto einlegen. Die Einigung gelang durch einen Kompromiss. Demnach wird die qualifizierte Mehrheit erst ab 2014 gelten. In Streitfällen können sich Staaten außerdem noch bis 2017 auf den geltenden Nizza-Vertrag berufen und den Aufschub einer unliebsamen Entscheidung fordern.

Die britische Regierung wiederum hatte Bedenken gegen die Rechtsverbindlichkeit der EU-Grundrechte-Charta. Sie solle kein verbindliches britisches Recht werden, war das Argument. Deshalb sollte sie auch nicht im reformierten Vertragswerk erscheinen. Die Grundrechte-Charta ist aufgrund des britischen Einspruches nicht mehr Teil der Verträge. Allerdings wird sie durch einen Verweis verbindlich. Ausnahmeregelungen gelten außer für Großbritannien auch für Polen. Zudem strebt die tschechische Regierung ebenfalls Sonderregelungen für ihr Land an.

Die Berufung eines EU-Außenministers als oberstem Chefdiplomat der EU stieß ebenfalls auf britische Bedenken. Deshalb legte man im Vertrag von Lissabon fest, dass in Zukunft der EU-Außenminister offiziell "Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik" genannt wird. Seit dem Inkrafttreten des Vertrages sind in dieser Position die Funktionen des EU-Außenbeauftragten und des EU-Außenkommissars gebündelt. Mit dem neuen Amt bekommt die EU-Außenpolitik erstmals ein einheitliches Gesicht. Zur ersten "Hohen Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik" wurde die Britin Catherine Ashton bestimmt.

Ratifizierung des Vetrages von Lissabon

Nachdem die wichtigsten Streitpunkte aus dem Weg geräumt waren, schritten die Arbeiten zum neuen EU-Vertrag schnell voran. Auf der Basis des beschlossenen Mandates des Europäischen Rates formulierten die Juristen einen Entwurf. Am 18. und 19. Oktober 2007, während des EU-Gipfels in Lissabon, wurde dieser beschlossen und eine schnelle Umsetzung bekräftigt. Der Vertrag von Lissabon konnte allerdings erst zum 01.Dezember 2009 in Kraft treten. Im Juni 2008 wurde der Vertrag von der irischen Bevölkerung in einem Referendum zunächst abgelehnt. Erst eine Wiederholung der Volksbefragung brachte im Oktober 2009 die Zustimmung. Auch Polen und die Tschechische Republik verweigerten lange ihre Zustimmung.

 

Weitere Informationen:

- Die wichtigsten Änderungen des Vertrags von Lissabon

- Ratsentscheidungen mit qualifizierter Mehrheit simuliert der Online-Ratsrechner von eu-info.de

- Europäischer Verfassungsvertrag: vom Konvent zu den gescheiterten Referenden 2005

- Der Vertrag von Nizza: derzeit gültige Rechtsgrundlage der Europäischen Union