Die Verfassung der Europäischen Union

Einführung

VORGESCHICHTE DES VERFASSUNGSPROZESSES

Mit der Unterzeichnung des Vertrags über eine Verfassung für Europa am 29. Oktober 2004 in Rom hat die Europäische Union einen entscheidenden Schritt getan. Die Verfassung ist das Ergebnis eines langen Integrationsprozesses, der geprägt war durch die kontinuierliche Vertiefung der europäischen Einheit und durch die sukzessiven Erweiterungen der Union.

Eröffnet wurde die Debatte über die Konstitutionalisierung Europas vom ersten direkt gewählten Europäischen Parlament. Am 14. Februar 1984 verabschiedete das EP mit großer Mehrheit den visionären Bericht von Altiero Spinelli, der in seinem „Entwurf des Vertrags über die Europäische Union" eine grundlegende Reform der Europäischen Gemeinschaft (EG) vorschlug.

Seitdem haben die aufeinander folgenden Verträge den Weg für eine Konstitutionalisierung Europas bereitet. Als Bausteine des europäischen Aufbauwerks brachten sie folgende Neuerungen ein:

- Ein erster Schritt war 1987 die Unterzeichung der Einheitlichen Europäischen Akte, gleichbedeutend mit der ersten Reform der Verträge seit den 50er Jahren. Ziel dieses Vertrags war die Vollendung des Binnenmarkts bis zum Jahr 1992.
- 1992 wurde mit dem in Maastricht unterzeichneten Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag) eine neue Entwicklung eingeleitet: Er begründete die Europäische Union und mit ihr eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie die Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres (JAI).
Damit tat die EU den ersten wichtigen Schritt ihrer Umwandlung von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einer politischen Gemeinschaft. Darüber hinaus öffnete diese Reform den Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion und zur Einführung des Euro.

- Der 1997 unterzeichnete Vertrag von Amsterdam vertiefte die europäische Einheit weiter. In ihm sind die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte formell verankert. Dies geschah dadurch, dass man erste Elemente einer gemeinsamen Politik in den Bereichen Freiheit, Sicherheit und Recht festlegte und neue Politikfelder in die Gemeinschaftspolitik integrierte. Außerdem hat dieser Vertrag die Reform der europäischen Institutionen auf den Weg gebracht und insbesondere die Rolle des Europäischen Parlaments gestärkt.
- Weitergeführt wurde die mit Blick auf die Osterweiterung, d. h. die größte Erweiterung in der Geschichte der Union, so dringliche Reform der Institutionen durch den im Jahr 2001 unterzeichneten Vertrag von Nizza .

WIE DIE VERFASSUNG ENTSTAND

Nach Unterzeichnung des Vertrags von Nizza basierte das Gemeinschaftsrecht auf acht Verträgen sowie mehr als 50 Protokollen und Anhängen. Die vorgenannten sukzessiven Verträge haben sich nicht darauf beschränkt, den ursprünglichen EG-Vertrag abzuändern. Vielmehr haben sie ihn um neue Elemente erweitert. Die neuen Verträge haben allerdings die Struktur Europas auch immer komplexer und für die europäischen Bürger nur noch schwer durchschaubar gemacht.

Der Vertrag von Nizza förderte mit seinen technischen Anpassungen zwar nicht die Transparenz, ebnete aber den Weg für einen unumgänglich gewordenen Prozess der institutionellen Reform. In der Erklärung über die Zukunft der Union , die der Schlussakte der Regierungskonferenz (RK) 2000 beigefügt ist, sind die bis zum Abschluss eines neuen Reformvertrags zurückzulegenden Etappen abgesteckt. Diese Erklärung gab also den eigentlichen Startschuss für den Verfassungsprozess.

Auf seiner Tagung in Laeken im Dezember 2001 berief der Europäische Rat den Europäischen Konvent ein. Dessen Aufgabe war es, die Reform vorzubereiten und Vorschläge zu unterbreiten. Dass die Wahl auf einen Konvent fiel, markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Änderungen der Verträge: Darin zeigt sich der Wille, von den Klausurtagungen abzukommen, an denen allein die Vertreter der Regierungen teilnehmen.

Der Konvent , dem Vertreter der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments, der nationalen Parlamente und der Europäischen Kommission angehörten, hielt von Februar 2002 bis Juli 2003 öffentliche Debatten ab. Er schlug vor, die Union tief greifend zu reformieren und sie effizienter, transparenter, leichter verständlich und bürgernäher zu gestalten. Das Ergebnis seiner Arbeiten, der Entwurf eines Verfassungsvertrags für Europa, diente als Verhandlungsbasis in der Regierungskonferenz 2003/2004 .

Die RK von Oktober 2003 bis Juli 2004 einigte sich über den Vertrag über eine Verfassung für Europa. Dieser Verfassungsvertrag ersetzt die Gesamtheit der in den letzten 50 Jahren geschlossenen Verträge, mit Ausnahme des Euratom-Vertrags.

DIE STRUKTUR DES VERFASSUNGSVERTRAGS

Der Verfassungsvertrag gliedert sich in vier Hauptteile. Anzumerken ist, dass die verschiedenen Teile des Verfassungsvertrags absolut gleichwertig sind. Eine Präambel konstitutionellen Charakters resümiert die europäische Geschichte und das europäische Erbe und bringt die Entschlossenheit Europas zum Ausdruck, Trennendes zu überwinden. Gegenstand von Teil I sind die Grundsätze, Zielsetzungen und die institutionellen Bestimmungen der neuen Europäischen Union. Er umfasst die folgenden neun Titel:

- Definition und Ziele der Union
- Grundrechte und Unionsbürgerschaft
- Die Zuständigkeiten der Union
- Die Organe und Einrichtungen der Union
- Ausübung der Zuständigkeiten der Union
- Das demokratische Leben in der Union
- Die Finanzen der Union
- Die Union und ihre Nachbarn
- Zugehörigkeit zur Union.
Teil II des Verfassungsvertrags übernimmt die europäische Charta der Grundrechte. Er umfasst sieben Titel, denen eine Präambel vorangestellt ist:

- Würde des Menschen
- Freiheiten
- Gleichheit
- Solidarität
- Bürgerrechte
- Justizielle Rechte
- Allgemeine Bestimmungen.
Teil III beinhaltet die Bestimmungen zu den Politikbereichen und zur Arbeitsweise der Union: Bestimmungen zur Innenpolitik und Außenpolitik der EU, z. B. zum Binnenmarkt, zur Wirtschafts- und Währungsunion, zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und zur Arbeitsweise der Institutionen. Auch der dritte Teil umfasst sieben Titel:

- Allgemein anwendbare Bestimmungen
- Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft
- Interne Politikbereiche und Maßnahmen
- Assoziierung der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete
- Auswärtiges Handeln der Union
- Arbeitsweise der Union
- Gemeinsame Bestimmungen.
Teil IV enthält die allgemeinen Bestimmungen und Schlussbestimmungen des Verfassungsvertrags, insbesondere das Inkrafttreten, die Verfahren zur Änderung der Verfassung und die Aufhebung der früheren Verträge.

Dem Verfassungsvertrag angefügt ist eine Reihe von Protokollen:

- Das Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union;
- Das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit;
- Das Protokoll betreffend die Euro-Gruppe;
- Das Protokoll zur Änderung des Euratom-Vertrags;
- Das Protokoll über die Übergangsbestimmungen für die Organe und Einrichtungen der Union.
- Darüber hinaus wurde der Schlussakte zur RK eine Fülle von Erklärungen angefügt.


DIE GRUNDPINZIPIEN

- Die Werte und Ziele der EU sowie der Rechte der Unionsbürger werden durch Integration der europäischen Charta der Grundrechte in die Verfassung festgeschrieben.
- Die EU erhält Rechtspersönlichkeit (Europäische Gemeinschaft und Europäische Union werden verschmolzen).
- Die Zuständigkeiten werden klar und deutlich festgelegt (ausschließliche Zuständigkeiten, geteilte Zuständigkeiten und unterstützende Zuständigkeiten) und zwischen den Mitgliedstaaten und der Union aufgeteilt.
- Es wird eine Bestimmung zum freiwilligen Austritt aufgenommen, die es erstmals einem Mitgliedstaat ermöglicht, aus der Europäischen Union auszuscheiden.
- Die Handlungsinstrumente der EU werden vereinfacht . Die Zahl der Rechtsaktarten wird von 15 auf 6 reduziert und die Terminologie wird vereinfacht: Neu eingeführt werden die Begriffe Europäisches Gesetz und Europäisches Rahmengesetz.
- Zum ersten Mal werden die demokratischen Grundlagen der Union definiert, darunter die partizipative Demokratie, und es wird eine echte Möglichkeit für die Bürger geschaffen, Gesetzesinitiativen zu ergreifen.

Die Organe und Einrichtungen

- Die neue Sitzverteilung im Europäischen Parlament entspricht einer degressiv proportionalen Vertretung.
- Der Europäische Rat wird formell institutionalisiert. Künftig wird ein auf zweieinhalb Jahre gewählter Präsident den Vorsitz führen. Die alle sechs Monate wechselnde Präsidentschaft im Europäischen Rat wird also abgeschafft.
- Die Kommission wird ab 2014 verkleinert . Die Zahl der Kommissare wird zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten betragen.
- Der Präsident der Kommission wird vom Europäischen Parlament gewählt auf der Grundlage eines Vorschlags des Europäischen Rates.
- Es wird ein Außenminister ernannt, der die Funktionen des Kommissars für Außenbeziehungen und des dem Rat angehörenden Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Personalunion vereint.

Die Entscheidungsprozesse

- Die qualifizierte Mehrheit wird neu definiert. Als qualifizierte Mehrheit gilt eine Mehrheit von mindestens 55 % der Mitgliedstaaten, sofern deren Bevölkerungsanteil mindestens 65 % der Bevölkerung der Union ausmacht.
- Die Abstimmung mit qualifizierten Mehrheit im Ministerrat wird ausgeweitet : Sie wird für etwa zwanzig bestehende Rechtsgrundlagen und für etwa 20 weitere neue Rechtsgrundlagen praktiziert werden.
- Das Mitentscheidungsverfahren, nach dem Parlament und Rat gemeinsam Europäische Gesetze und Rahmengesetze erlassen, wird zum Regelfall ( ordentliches Gesetzgebungsverfahren ).
- Es werden Übergangsklauseln geschaffen, die eine Ausweitung der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit und den Übergang zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach einem vereinfachten Verfahren erlauben.

Die Politik der Union

- Die wirtschaftliche Koordination zwischen den Ländern der Eurozone wird verbessert und die informelle Rolle der Euro-Gruppe wird anerkannt.
- Die Pfeilerstruktur wir abgeschafft: Der zweite (Gemeinsame Außen- und -Sicherheitspolitik) und der dritte (Justiz und innere Angelegenheiten) Pfeiler, bisher Gegenstand der Regierungszusammenarbeit, werden vergemeinschaftet.
- Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wird gestärkt durch Einsetzung eines europäischen Ministers für Auswärtige Angelegenheiten und die progressive Ausgestaltung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik , unter anderem durch Schaffung einer Europäischen Verteidigungsagentur und die Zulassung einer verstärkten Zusammenarbeit in diesem Bereich.
- Ein echter Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird geschaffen durch eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Zuwanderung und Kontrolle an den Außengrenzen und in der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit durch Ausweitung der Aktivitäten von Europol und Eurojust und durch erste Schritte auf dem Weg zu einer Europäischen Staatsanwaltschaft.


Der Weg zur Reform der Europäischen Union
Seit über einem Jahrzehnt war die Reform-Aufgabe klar gestellt: Europa braucht eine bürgernahe Europäische Union, die auch mit 25 Mitgliedstaaten handlungsfähig ist. Die heutigen Entscheidungsstrukturen der Europäischen Union könnten dies nicht leisten. Sie wurden in den fünfziger Jahren nicht für eine Gemeinschaft von über 25, sondern von sechs Mitgliedstaaten geschaffen. Schon in den letzten Jahren zeigten sich Ermüdungserscheinungen: Langwierige Debatten, schwerfällige Entscheidungen, ein Mangel an strategischer Führung und eine unzureichende Beteiligung der Bürger an der europäischen Politik.

Die europäischen Staats- und Regierungschefs waren bei den letzten großen Anpassungen des europäischen Vertragswerks in Amsterdam im Jahr 1997 und in Nizza im Jahr 2000 nicht in der Lage, sich diesen Herausforderungen wirklich zu stellen. Ergebnis waren kaum überschaubare Verhandlungspakete, von den Regierungen der Mitgliedstaaten kleinlich zusammengeschnürt. Die Konsequenzen sind bekannt: Massive Kritik an der Rolle des Europäischen Rates und eine verstärkte öffentliche Debatte um die Zukunftstauglichkeit der Europäischen Union.

Die Fragen zur Zukunft Europas
Auf ihrem Europäischen Rat von Laeken im Dezember 2001 haben die Staats- und Regierungschefs einen neuen Kurs gewagt. Sie bestätigten dabei noch einmal das Ziel: Die Europäische Union muss demokratischer, transparenter und effizienter werden. Der Weg zu diesem Ziel soll nun aber nicht mehr von Regierungsbeamten hinter verschlossen Türen ausgehandelt, sondern in einer offenen Debatte erarbeitet werden. Hierfür hat der Europäische Rat von Laeken einen "Konvent zur Zukunft Europas" einberufen, der die Diskussion offen und für jedermann zugänglich führen sollte.

Dabei hat der Europäische Rat Fragen vorgegeben. Wie müssen die europäischen Institutionen aussehen, damit man auch mit über 25 Mitgliedstaaten zu klaren und gerechten Entscheidungen kommen kann? Wie kann erreicht werden, dass die Bürger europäische Entscheidungen nachvollziehen können und sich wirklich beteiligt fühlen? Wann soll die Europäische Union überhaupt zuständig sein? Und: Wie können die Bürger vor einem Ausufern der Tätigkeiten der Union geschützt werden? Sind europäische Entscheidungen noch ausreichend demokratisch legitimiert? Welche Rolle können die nationalen Parlamente in diesem Zusammenhang spielen?

Der Konvent mußte die schwierige Balance im Spannungsfeld zwischen freischwebendem Diskussionsforum und des Gremiums zur Gestaltung des institutionellen Rahmens der künftigen Union schaffen. Am Ende stand der Entwurf eines "europäischen Verfassungsvertrags".

Kernelemente des Europäischen Verfassungsentwurfs
Der Präsident des Europäischen Konvents, Valéry Giscard d'Estaing, hat dem Europäischem Rat am 20. Juni 2003 im griechischen Thessaloniki den Entwurf einer Europäischen Verfassung übergeben. Die Staats- und Regierungschefs haben diesen Entwurf als Grundlage weiterer Gespräche angenommen.

Der Entwurf besteht aus vier Teilen. Die zentralen Neuerungen sind im Teil I enthalten, deren Kernelemente nachstehend beschrieben sind. Teil II enthält die bereits früher verabschiedete Charta der Grundrechte. Die Teile III und IV übernehmen die bisherigen Regelungen von EG- und EU-Vertrag über die Arbeitsweise der Union beziehungsweise enthalten Allgemeine- und Schlussbestimmungen.

Am Anfang des Verfassungsentwurfs stehen im Teil I die Ziele und Werte der Europäischen Union. Die EU gründet sich auf die Achtung der Menschenrechte, der Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit. Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die sich zu diesen Werten bekennen und ihnen Geltung verschaffen. Der Titel "Grundrechte und Unionsbürgerschaft" nimmt Bezug auf die bereits verabschiedete Charta der Grundrechte und legt die Rechte der Bürgerinnen und Bürger der EU fest. Unionsbürgerin und Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt.

Die Zuständigkeiten der Union werden in Titel 3 festgelegt. Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips darf die Union nur bei politischen Zielen tätig werden, die von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können. Die ausschließlichen und geteilten Gesetzgebungszuständigkeiten werden aufgelistet. Das Recht der Union hat Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten. Außerdem wird das Prinzip der Verhältnismäßigkeit festgeschrieben.

Titel 4 bestimmt die Organe der EU. Organe der EU sind das Europäische Parlament, der Europäische Rat, der Ministerrat, die Europäische Kommission und der Gerichtshof. Erstmals soll ein hauptamtlicher Präsident an der Spitze der EU stehen. Vorgesehen ist, den EU-Ratspräsident von den Staats- und Regierungschefs auf zweieinhalb Jahre zu wählen. Sein Mandat kann einmal verlängert werden. Der EU-Präsident soll die Arbeit des Europäischen Rates koordinieren und jährlich vier Gipfeltreffen vorbereiten. Er soll die EU auch nach außen vertreten, dabei aber die Zuständigkeiten des EU-Außenministers wahren. Neu wird auch das Amt eines EU-Außenministers sein. Er soll zugleich Vorsitzender des Außenministerrates und Vizepräsident der EU-Kommission sein. Dadurch wird er sowohl an den Ministerrat als auch an die Kommission angebunden. Der Europäische Rat wird ihn ernennen, der Präsident der EU-Kommission muss zustimmen.

Die EU-Kommission wird auf 15 stimmberechtigte Kommissare begrenzt, einschließlich des Außenministers der EU und des Präsidenten der EU-Kommission. Dabei soll das Rotationsprinzip gelten. Große und kleine EU-Staaten sind gleichberechtigt. Hinzu kommen nichtstimmberechtigte Kommissare, damit alle Länder im EU-Exekutivorgan vertreten sind. Das Mitentscheidungsrecht des Parlaments soll erweitert werden. So wird das Europaparlament den Präsidenten der EU-Kommission wählen und die gesamte Kommission per Votum billigen.

Ministerrat und Parlament sind die Gesetzgeber der EU.

Der Verfassungsentwurf will die Bereiche, in denen mit Mehrheit im Rat entscheiden werden kann, erweitern. Es ist aber immer eine Mehrheit der Mitgliedstaaten und von drei Fünfteln der EU-Bevölkerung erforderlich (sog. doppelte Mehrheit). In außenpolitischen Fragen bleibt es bei der Einstimmigkeit.

Titel 5 regelt die Gesetzgebung der Union und enthält Bestimmungen zur Außen- und Sicherheitspolitik, zum gegenseitigen Beistand und zur Entwicklung eines Raumes von Recht und Sicherheit. In diesen Bereichen gehen die Bestimmungen deutlich über die bisherigen Regelungen im EG- und EU-Vertrag hinaus. Die Rechtssetzung der EU wird gestrafft.

Die demokratische Ordnung der EU wird in Titel 6 beschrieben. Neben dem Grundsatz der partizipativen Demokratie wird die Transparenz aller Handlungen der Union vorgeschrieben, verbunden mit dem Recht der Unionsbürger auf Zugang zu amtlichen Dokumenten. Neu ist die Möglichkeit des Bürgerbegehrens, wenn mindestens eine Million Menschen dies wollen. Abschließend werden die Kriterien und das Verfahren für den Beitritt zur EU geregelt.

Erstmals werden auch Verfahren für einen freiwilligen Austritt aus der Union formuliert. Außerdem wird bestimmt, wie im Falle von Verstößen gegen die Grundwerte der EU-Verfassung durch Mitgliedstaaten zu verfahren ist. Die oben angegebenen Regelungen des Verfassungsentwurfs werden in drei Anlagen präzisiert:

- Ein Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU,
- ein Protokoll über die Anwendung der Regeln der Subsidiarität,
- und ein Protokoll über die Vertretung der Bürger im Parlament sowie die Stimmgewichte im Ministerrat.

Keine Einigung auf dem Brüsseler Gipfel am 12. und 13. Dezember 2003
Der EU-Gipfel zur europäischen Verfassung ist gescheitert und hat die Gemeinschaft in eine schwere Krise gestürzt. Die Staats- und Regierungschefs hatten sich in Brüssel nicht über die künftige Stimmengewichtung im Ministerrat einigen können.

Der amtierende EU-Ratspräsident und italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi lehnte es nach Angaben seiner Verhandlungskreise ab, einen Minimalkompromiss vorzuschlagen. «Berlusconi hat
eine letzte bilaterale Sitzung mit Frankreich, Deutschland und Großbritannien abgehalten, an deren Ende er entschieden hat, das Treffen zu unterbrechen», sagte ein spanischer Diplomat.

Polen trage die Hauptverantwortung für das Scheitern, sagte der Parlamentsvertreter in der Regierungskonferenz, Klaus Hänsch. «Ich hoffe, dass man bald wieder zu einem Treffen zusammenkommt und dass Spanien und Polen verstehen, dass sie eine historische Chance verpasst haben», fügte Hänsch hinzu.

Wegen des ungelösten Streits um das politische Gewicht der Mitgliedstaaten in der erweiterten Gemeinschaft kam das Scheitern nicht unerwartet. Polen und Spanien wollten auf jeden Fall am Abstimmungsmodus nach dem Nizza-Vertrag festhalten, der ihnen mehr Möglichkeiten für Blockaden bietet. Die meisten anderen Länder forderten hingegen, wie im Verfassungsentwurf vorgesehen zu doppelten Mehrheiten überzugehen. Es würde die Bevölkerungsgröße der verschiedenen EU-Staaten besser berücksichtigen.

Zum Thema doppelte Mehrheit
Mit Blick auf ein erweitertes Europa wurden bereits verschiedene Lösungen zur Wahrung des gegenwärtig herrschenden Gleichgewichts zwischen sogenannten großen und kleinen Staaten bei der Beschlussfassung im Rat erwogen. Hätte man nach der Erweiterung am derzeitigen System der Stimmengewichtung im Rat festgehalten, so hätte die Gefahr bestanden, dass eine qualifizierte Mehrheit der Stimmen nur eine Minderheit der Bevölkerung der Europäischen Union repräsentiert. Aus diesem Grund wünschten die bevölkerungsstärksten Mitgliedstaaten eine Neugewichtung der Stimmen oder ein System der doppelten Mehrheit, durch das gewährleistet würde, dass eine Mehrheit im Rat nicht nur die Mehrheit der Mitgliedstaaten, sondern auch die Mehrheit der Bevölkerung der Union repräsentiert.

Auf der Regierungskonferenz (RK) von 1996/1997, die zum Amsterdamer Vertrag führte, wurden beide Lösungen eingehend diskutiert.

Der Vorschlag der doppelten Mehrheit sah eine Stimme für jeden Mitgliedstaat vor, für die Beschlussfassung musste aber die Mehrheit der Mitgliedstaaten gleichzeitig die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren. Angesichts der Tatsache, dass die RK zu keiner Einigung über diesen Vorschlag gelangen konnte, wurde dem Vertrag ein "Protokoll über die Organe im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen Union" beigefügt.

In diesem Protokoll erklären sich die großen Mitgliedstaaten (Deutschland, Spanien, Frankreich, Italien, Vereinigtes Königreich) damit einverstanden, nach der Erweiterung auf ihr zweites Kommissionsmitglied zu verzichten, falls sie durch die Neugewichtung der Stimmen im Rat begünstigt werden. So wird die Frage der Verringerung der Zahl der Kommissionsmitglieder unmittelbar mit der Frage der Beschlussfassung im Rat verknüpft.

Weiter war vorgesehen, noch vor Erreichen einer Zahl von 20 EU-Mitgliedstaaten erneut eine Regierungskonferenz einzuberufen, um die Bestimmungen der Verträge über die Arbeitsweise der Organe zu überprüfen und insbesondere um eine endgültigere Lösung für die Beschlussfassung im Rat zu finden.

Auf dieser RK, die im Februar 2000 begann, wurde bezüglich der Abstimmungsmodalitäten im Rat beschlossen, eine Neugewichtung der Stimmen vorzunehmen und diese mit einer doppelten oder gar dreifachen Mehrheit zu kombinieren, die für den Erlass eines Rechtsaktes im Rat erforderlich sein soll. Neben der Neugewichtung der Stimmen zugunsten der großen Mitgliedstaaten muss die qualifizierte Mehrheit zudem die Mehrheit der Mitgliedstaaten repräsentieren. Hinzu kommt ein sogenanntes "demographisches Netz": jeder Mitgliedstaat kann beantragen, dass überprüft wird, ob die qualifizierte Mehrheit mindestens 62 % der Gesamtbevölkerung der Union repräsentiert. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, so kommt der Beschluss nicht zustande. Diese neuen Bestimmungen treten am 1. November 2004 in Kraft.